Mörderisches vom Niederrhein. Regina Schleheck

Mörderisches vom Niederrhein - Regina Schleheck


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als ich. Das wurde mir spätestens in dem Moment ziemlich übel bewusst, als ich nach kaum einem Drittel der Strecke schlappmachte und Lars das verabredete Zeichen gab: Peace, Bruder. Ein V mit dem rechten Zeige- und Mittelfinger, die ich mit letzter Kraft aus dem Wasser streckte. Der Dödel winkte fahrig zurück, grinste blöd, beugte sich über die Reling, erbrach sich und fiel seinem Verdauungsgut gleich hinterher. Der Wellengang war wohl zu viel für ihn gewesen. Immerhin schaffte er es, sich an der Bordwand festzuklammern.

      Diese Strömung! Man kann sich gar nicht vorstellen, was da für Kräfte an einem ziehen! Es riss mich immer weiter weg. Ich kämpfte darum, den Kopf über Wasser zu halten. »Lars, du Arsch!«, schrie ich. Aber erstens war es sowieso für den Arsch, und zweitens machte es alles nur noch schlimmer, weil das Brüllen mich viel Kraft kostete. Was für eine idiotische Idee zu glauben, es bis ans andere Ufer zu schaffen! Für mich gab es jetzt ein einziges Ziel: in der Nähe des Bootes zu bleiben, dessen Motor ausgesetzt hatte, sodass es mitsamt seinem Bootsführer flott flussabwärts trieb. Und Leander? Als wenn ich mich in dieser Lage um den hätte kümmern können!

      *

      Gewettet hatten wir von klein auf. Lars und ich. Eigentlich war das Erwins Schuld. Lars lernte Erwin erst nach der Grenzöffnung kennen. Bis dahin hatte es immer geheißen: »Frag nicht.« Über die Großeltern erfuhr er immerhin, dass er ein Mitbringsel von der Abschlussfahrt seiner Mutter nach Berlin war. Zehnte Klasse. Nach einer Lehre als Verkäuferin ließ sie sich vom Abteilungsleiter schwängern, heiratete und zog bei den Großeltern aus. Der Stiefvater adoptierte Lars, und als der schon fast vergessen hatte, dass er mal unter einem anderen Namen firmiert hatte, saß ein fremder Mann am Küchentisch und seine Mutter sagte: »Gib deinem Vater die Hand.«

      Erwin hatte in Ost-Berlin Schlosser gelernt, war über eine Leiharbeitsfirma an eine Duisburger Werft gekommen und holte Lars am Wochenende zu Ausflügen ab. Da Lars und ich alles zusammen machten, kam ich mit. Wir saßen auf den Rheinbuhnen, ließen flache Steine titschen, wetteten, wie oft sie auf der Wasseroberfläche auftrafen, angelten, wetteten, welcher Art und wie schwer der Fisch war, der anbiss, stromerten mit Metallsonden am Ufer und auf dem Gelände hinter der Werft herum und wetteten, sobald sie anschlugen, worum es sich handelte. Abenteuer pur.

      Dabei nahm uns Erwin gleich doppelt aus: Wir verloren einen Großteil unseres Taschengelds beim Wetten. Und waren billige Arbeitskräfte: Er sammelte Metallschrott, den er vertickte. Auch der Fischfang landete komplett in seiner Kühltasche, weil es ja seine Angeln und Detektoren waren. Uns war das herzlich egal.

      Am Tag nach der Abifeier klingelte es bei mir Sturm. Ich öffnete die Tür meines Einliegerappartements und bat Lars in die Küche, wo ich zwei Flaschen Alt und einen Eisbeutel aus dem Kühlschrank klaubte und mich an die Frühstücksbar lehnte.

      Lars ignorierte meinen verkaterten Zustand geflissentlich. Er knallte etwas auf die Theke, das sich bei näherer Betrachtung als Sparbuch entpuppte. Jemand hatte es gelocht und mit mehreren Schnitten versehen. Ich klappte es auf und registrierte regelmäßige monatliche Eingänge über die Jahre 1990 bis ’94 von um die 500 Euro – und einen Betrag von knapp 20.000 Euro, letzte Woche abgehoben, woraufhin das Sparbuch aufgelöst worden war. Ich blätterte zurück: Erwins Name.

      »Und?«, fragte ich.

      Lars schnaubte. »Mein Geld. Er hat es mir immer wieder gezeigt und gesagt, er zahlt meinen Unterhalt da ein. Ich dürfte es meiner Mutter nicht verraten, der gegenüber er behauptete, er könnte nichts für mich abdrücken. Er wollte nicht, dass sie es sich unter den Nagel reißt. Mir stattdessen damit das Studium finanzieren.«

      »Und jetzt?«

      »Ich hab ihm wie vereinbart das Zeugnis gezeigt, und er hat mir das Sparbuch ausgehändigt. Es täte ihm leid, aber er hätte das Geld selbst dringend gebraucht.«

      »Wofür?«

      »Meinst du, das hätte ich gefragt?«, meinte Lars. »Der hat mich jahrelang beschissen – wie er meine Mutter beschissen hat. Und ich hab ihn gedeckt und ihm sogar dabei geholfen – du genauso!«

      »Hä?«

      »Überleg mal, was wir für den aus dem Boden geholt haben! Der hat das samt und sonders versilbert. Und mir erzählt, dass er es für mich anlegt!«

      All die Jahre haben wir uns weiterhin getroffen. Und gesoffen. Und gewettet. Soweit es ihn selbst anging, ließ Lars sich dadurch nicht herausfordern. Er hat nie studiert. Seine Ausbildung nicht beendet. Aber auch wenn unsere Welten auseinanderdrifteten – er blieb mein bester Kumpel.

      *

      Genau genommen hatten wir es ja Leander zu verdanken. Er war der Hero. Der König. So hatte er sich zumindest vorgestellt: Leander König. War mit Moped und Fässchen Köpi an unserem Grillplatz vorgefahren, weil er sich just da, wo wir uns nach der Bootstour ein paar Würstchen einverleibten, sinnlos besaufen wollte. Sein großzügiges Angebot, das Fässchen mit uns zu teilen, nahmen wir – nichts Böses ahnend – an, bereuten es schon nach der ersten Runde, als er anfing, uns einen vorzuheulen von seiner Schlampe drüben in Alt-Homberg auf der anderen Rheinseite und ihrer Mischpoke. Er hatte sie geschwängert. Leider stellte sich nachher raus, dass sie ihn angelogen hatte und erst 15 war. Ihre Familie fand das gar nicht witzig. Er kriegte Haus- und Kontaktverbot, und sie sollte abtreiben. Das war zumindest der Plan der Eltern. Aber im Zeitalter von Handys und Internet konnte kein Stubenarrest verhindern, dass die beiden sich kurzschlossen. Leander machte ihr einen Heiratsantrag und danach unter Berufung auf Paragraf 1303 BGB Absatz 2 eine Eingabe beim Familiengericht auf Zustimmung, die die Einwilligung der Eltern erübrigte, sobald sie 16 würde. Am nächsten Tag war wohl ihr Geburtstag. Die ganze nichtsahnende scheinheilige Familie saß drüben im Restaurant Rheingarten und futterte sich die Wänste voll, um um Mitternacht mit dem missratenen Kind anzustoßen. Klar, dass er nicht zur Feier eingeladen war. Stattdessen soff er sich gegenüber auf der Landzunge der Ruhrmündung im Schatten der Rheinorange-Skulptur die Hucke voll und erkaufte sich unser Wohlwollen mit einer Runde nach der anderen und feurigen Ansprachen. Mit steigendem König-Pilsener-Pegel wurde er immer größenwahnsinniger. Ob wir wüssten, was sein Name bedeute? »Du bist der König!«, grölten wir im Chor. Er wehrte ab. Klar war er der König. Aber der Leander König! Leander komme von »leon«, dem Löwen, und »andros«, dem Mann. »Du bist der Löwe, Mann!«, schrien wir. Na, und darum lasse er es sich jetzt auch nicht nehmen, seiner Süßen zum Geburtstag zu gratulieren.

      »Wie willst du denn da rüberkommen?«, fragte ich. »Auf dein Moped solltest du dich besser nicht mehr setzen.«

      »Ich schwimme«, sagte er, und wir lachten uns mindestens eine Viertelstunde lang schlapp. Mit dem Mut eines Löwen besoffen in die Fluten des Rheins! Wenn das keinen Kater gäbe!

      Als klar war, dass er es tatsächlich ernst meinte, habe ich mit ihm gewettet. Dass er es nicht schaffen würde. Ich war ein erstklassiger Schwimmer und kannte den Rhein gut genug, dass ich mir diese Aktion nicht zutraute. Daher sollte uns Lars mit dem Botchen begleiten. Wir hatten das Teil ein paar Stunden vorher an der Anlegestelle an der Straße Am Bört kurz vor dem Landzipfel aufs Trockene gezogen, von wo aus wir am nächsten Morgen zurückfahren wollten. Die Wette lautete, dass Leander niemals das andere Ufer erreichen würde und auf jeden Fall weniger weit käme als ich. Ich war von uns dreien mit Sicherheit der Nüchternste und auch alkoholisiert der Vernünftigste. Schließlich war ich Notar. Und doch immerhin besoffen genug, um mich auf eine derartig bescheuerte Wette einzulassen.

      »Wie heißt deine Süße eigentlich?«, fragte ich ihn, als wir, nur mit Unterhose bekleidet, ins Wasser stiegen. »Hera«, bibberte er, denn nach dem Rumhocken an der Feuerstelle war das Wasser doppelt kalt, »Hera König.«

      »Wieso willsten die noch heiraten?«, bibberte ich zurück, »die trägt doch eh schon deinen Namen.«

      »Es ist der falsche«, grollte er, »der ihrer Eltern. Wir sind beide zwei Königskinder, nur aus verschiedenen Familien!«

      Es war eh zu spät, ihm die Heirat, den Geburtstagsbesuch und die Rheinüberquerung auszureden. Wir hatten um 1.000 Euro gewettet, schriftlich. Mir ging es dabei gar nicht ums Geld. Aber Ordnung musste sein, zumal wenn er es nachher möglicherweise nicht mehr würde bestätigen können. Er hatte nicht


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