Mörderisches vom Niederrhein. Regina Schleheck
minderjährigen Gör derartig verfallen? Hera König. Fast so schön wie Hera Lind. Die reinste Schmonzette. Leander auf dem Weg zu seinem Nymphchen! Und ich Idiot hatte mich darauf eingelassen. – Jetzt ging es ums nackte Überleben!
Es war nichts los auf dem Rhein. Nur der Mond war unser Zeuge. Und der guckte eher griesgrämig aus den Wolken. Okay, bei Schiffsverkehr wären wir ja gar nicht losgeschwommen. In dem Moment hätte ich mir allerdings den einen oder anderen Bootsmann gewünscht, der unseren Weg gekreuzt und uns aus dem Wasser gefischt hätte, bevor wir einer Melusine oder Undine, oder wie sie alle heißen, anheimfielen. Oder einem Fisch? Moby Dick fiel mir ein. Der weiße Wal. 1966 bei Duisburg, 300 Kilometer vom Meer entfernt, er schwamm fast bis Koblenz. Zuletzt bei Hoek van Holland gesichtet. Er musste den Weg zurück ins Meer gefunden haben. Dass wir unseren Weg ans andere Ufer fanden, schien angesichts der Strömung, die an uns riss, immer unwahrscheinlicher. Wo war Leander abgeblieben?
Ehe ich endgültig mit dem Leben abschloss, unternahm ich einen allerletzten Versuch, mich unserem Beiboot zu nähern, und der Wellengang war mir gewogen. Ich kriegte die Bordwand zu fassen und konnte mich festklammern. Lars hing an der anderen Seite, keuchte und spuckte.
»Alles klar, Kumpel?«, rief ich aufmunternd rüber.
»Nie war ich so nüchtern wie heute!«, stöhnte er. Ich habe die Gelegenheit genutzt, ihn zu fragen, wie er es mit seinem Testament halte. Sollte ich dieses Abenteuer überleben – und ich schätzte meine Chancen höher ein als seine –, würde es einiges zu regeln geben. Das ist ja nun mal mein Job. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich bei meinem Freund Kundenakquise betrieb. Ich denke, es ist psychologisch nicht verkehrt, wenn man so kurz vor dem Hopsgehen Klarschiff macht. Viel war ohnehin nicht bei ihm zu holen, dennoch fragte ich die Eckdaten ab. Außer der Mutter und dem Stiefbruder war niemand mehr da, den er bedenken konnte. Abgesehen von ein paar Haushaltsgeräten gab es nur das Botchen. Und wie es aussah, würde das früher oder später an einem der Pfeiler der Friedrich-Ebert-Brücke oder spätestens der Beeckerwerther Brücke am Emscherschnellweg geschrottet. Wir inklusive. Die Rheinüberbauung war in Sichtweite gerückt, und es handelte sich um keine freundliche Annäherung. Wir fixierten die Brücke wie Kaninchen die Schlange und wünschten, es wäre umgekehrt.
*
Gar nicht so weit von der Stelle entfernt, auf einer anderen Brücke, am Zollamt Ruhrort, hatte ich vor vier Jahren die Detonation und die Feuersäule erlebt, westlich von mir, am Becken B. Es mag Einbildung gewesen sein. Aber ich meinte, in dem sich ausbreitenden Blitz etwas durch die Luft fliegen zu sehen, eine menschliche Gestalt. Zeugen in der Nähe des Hafenbeckens wollten gleich zwei Aufschläge ins Hafenbecken gehört haben. Körper? Trümmerteile? Tatsächlich hieß es anschließend, einer der drei Werftarbeiter, die vor Ort gewesen waren, als die Explosion sich ereignete, sei verschwunden. Die Polizei suchte im weiten Umkreis das Gelände ab. Zwei der Männer wurden schließlich hunderte Meter entfernt gefunden, in einem Zustand, der eine Identifizierung schwermachte. Einer lag auf den Schienen der Güterbahn, der andere auf der Straße. Im Rumpf des Tankers, in dem die Monteure im Laderaum mit Nacharbeiten für den Schiffs-TÜV beschäftigt gewesen waren, klaffte ein riesiges Loch. Das Vorderdeck war vollkommen zerstört. Erst nach Stunden bekam die Feuerwehr den Brand in den Griff. Der Rauch war kilometerweit zu sehen. Auf der Karl-Lehr-Brücke staute sich der morgendliche Berufsverkehr. Die Menschen sprangen aus den Autos, drängelten sich in Trauben am Geländer und filmten mit Smartphones. Es gelang mir nur mit Mühe, meinen Weg durch die Menge der Gaffer fortzusetzen.
Der Auslöser der Detonation blieb unklar. Die Schiffsladung – Bitumen und Schweröle – war, bevor der Tanker in die Werft gebracht wurde, vorschriftsmäßig gelöscht worden. Die Ursache daher rätselhaft. Gas? Woher sollte es kommen?
Man suchte das Hafenbecken ab. Fischte im vier Meter tiefen Wasser im Trüben. Trotz der geringen Strömung war durchaus denkbar, dass der Körper durch Schiffsbewegungen abgetrieben war. Polizeiboote fuhren tagelang den Rhein ab.
Erwin blieb verschwunden.
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Der Gedanke, dass unter uns eine Leiche im Strom liegen mochte, die sich vielleicht irgendwo verfangen hatte, stimmte mich nicht zuversichtlicher. Bis – ja, bis wir plötzlich ein Motorboot hinter uns hörten. Es war Leander. Und er war nicht allein. In null Komma nichts hatten sie uns aus den Fluten gefischt, das Boot vertäut, wir kriegten warme Wolldecken und das Maul nicht mehr zu, während Leander uns seine Story erzählte.
Natürlich war er heillos abgesoffen! Aber immerhin hatte er seine Süße vorher per Whatsapp informiert. Und die war Kind genug, es ihren Eltern brühwarm zu erzählen. Woraufhin Vater König samt seinem trächtigen Balg sofort die Geburtstagsparty verlassen und mit einigen zufällig anwesenden Mitgliedern des Homberger Ruderklubs Germania zu deren Bootshaus an der Schifffahrtschule geeilt war, um den Untergang seines Schwiegersohns in spe live zu erleben. Und natürlich hatte er ihn mit Heras Hilfe und der der Ruderkumpane trotzdem rausgefischt, als sie ihn fanden. Irgendwie muss es ihm imponiert haben, dass dieser Idiot das Leben für sein Töchterchen aufs Spiel gesetzt hatte.
So konnte es auch gehen.
*
Fast ein Jahr war damals verstrichen, als wir uns zum Grillen verabredet hatten. Am Fuß der Rheinorange-Skulptur, gleich hinter den Buhnen, auf denen wir als Teenager geangelt hatten. Das Angeln hatten wir nie mehr aufgenommen. Aber ein anderes Hobby gelegentlich gemeinsam gepflegt: Mit Metallsonden das Rheinufer, die Brachen rund um die großen Industrieanlagen, das Gelände um den Bahnhof und natürlich die Gegend um die Werften abzusuchen. Ich hatte mir zwei richtig gute Detektoren zugelegt. Und mir einiges angelesen, vor allem die Sicherheitsbestimmungen studiert. Und Kartenmaterial. Ich ging es systematisch an. Entsprechend wurden wir fast immer fündig. Nicht immer legten wir selbst Hand an, wenn klar war, was wir freigelegt hatten oder im Begriff waren freizulegen. Bei den richtig großen Oschis alarmierten wir die Polizei. Die immer wieder komplette Stadtteile evakuierte, im letzten Jahr Beeckerwerth und Neuenkamp. In Duisburg war 1944 tüchtig was runtergekommen, insbesondere im Oktober durch alliierte Bomber. Doch auch die Kesselschlacht hatte Spuren hinterlassen. Rund 1.500 US-Soldaten waren dem Kampf um das Ruhrgebiet noch in der letzten Kriegsphase Anfang 1945 zum Opfer gefallen – neben 10.000 Deutschen, Wehrmachtsangehörigen wie Zivilisten. Ganz zu schweigen von den Massenmorden der Gestapo, der Generalfeldmarschall Model hunderte Zuchthausinsassen, darunter politische Häftlinge, Kriminelle und Zwangsarbeiter, in den letzten Kriegstagen zwecks »Überprüfung« – sprich Liquidierung – zuführen ließ. Tausende Jugendliche waren an Panzerfäusten ausgebildet und mit Schusswaffen ausgerüstet worden, deren sie sich entledigt hatten – genau wie die desertierten Soldaten und Parteigenossen beim Einmarsch der alliierten Streitkräfte –, indem sie sie wegwarfen oder im freien Gelände verbuddelten, wo niemand sie zuordnen konnte. Der Duisburger Boden war voller Kriegshinterlassenschaften. Von Munition über Granaten, Gewehre, Patronen, Messer, Parteiabzeichen, Erkennungsmarken, Gürtelschnallen und natürlich auch Münzen fanden wir alles.
Erwin war es nicht nur um Metallschrott gegangen. Er hatte insbesondere Militaria und Drittes-Reich-Devotionalien auf einschlägigen Seiten angeboten. Und er tat das immer noch, wie ich feststellte, als ich mich über ihn schlaumachte. Nach Jurastudium und Zweitem Staatsexamen hatte ich gerade in einem Notariatsbüro angefangen, das ich später übernehmen sollte. Ich traf Erwin eines Tages zufällig vor der Zahnarztpraxis, die im selben Haus untergebracht war, wir kamen ins Gespräch und es gelang mir, ihn dazu zu bewegen, dass ich für ihn ein Testament aufsetzte. Nicht dass er der Mensch war, dem es danach dürstete. Im Gegenteil, ich musste ihn ganz schön um den Finger wickeln. Versprach, es werde ihn keinen Cent kosten, ich täte es gern, aus alter Verbundenheit, erinnerte an unsere gemeinsamen Ausflüge und fragte ihn beiläufig aus. Das Testament war mir ein Anliegen. Tatsächlich war da nicht viel zu holen. Was mir wichtig war: Es gab keine Erben außer Lars. Warum nicht ein bisschen nachbessern? Zumindest, was den Zeitpunkt anging.
Nachdem wir die Formalitäten erledigt hatten, schwärmte ich von unseren Sondengängen, ließ fallen, dass ich heute noch gelegentlich … und da auf etwas gestoßen sei, das ich ihm gerne zeigen würde. Mir selbst sei das zu brisant …
Man sah förmlich das Wasser in seinem Mund zusammenlaufen.
Wir