Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Corinne Rufli

Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert - Corinne Rufli


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im Austausch mit vielen Frauen, die eine bessere Selbstwahrnehmung und einen freieren Zugang zu ihren Gefühlen hatten als ich, und ich bewunderte sie dafür.

      Schliesslich kam der Tag, an dem mir Karin die Frage stellte, die mein Leben verändern sollte: «Was steckt eigentlich hinter deinem immerwährenden heiteren Lächeln?» Diese Frage und die Erkenntnis, dass diese Frau meine Fassade durchschaut hatte, liessen meine seelischen Dämme brechen. Meine ganze Verzweiflung, meine unterdrückte Wut und meine fassungslose Trauer hatten bei Karin Platz. Ich fand bei ihr mit all meinen inneren Konflikten und mit all meinen ungeordneten Gefühlen Gehör und Verständnis.

      Es ist mein Glück, dass ich heute mit einer Frau und gerade mit dieser Frau zusammenleben darf. Meine Liebe zu Karin machte mich frei, endlich konnte ich die Frau sein, die ich bin. Die Frau, die in Ordnung ist, so wie sie ist, die Frau, die liebesfähig ist. Ich hatte mir vorher jegliche Liebesfähigkeit abgesprochen, da ich es nicht geschafft hatte, einen in den Augen vieler Menschen idealen Mann zu lieben. Nicht lieben zu können, war mein tiefster Schmerz – und heute darf ich solche Freude erleben! Doch bis dahin war es ein langer Weg.

      Meine Kindheit im Baselland war geprägt von pietistischen Strömungen. Als ich zwölf Jahre alt war, schwappte eine von Billy Graham angeführte Evangelisationswelle von Amerika her über ganz Europa. Da mein Urgrossvater väterlicherseits seinen Hof wegen seiner Trunksucht verloren hatte, waren meine Eltern aus Überzeugung beim Blauen Kreuz und mit ihnen das halbe Dorf.

      Meine Geschwister und ich bekehrten uns gemeinsam in der Dorfkapelle und versprachen, unser Leben Gott zu widmen. Ich war im Bibellesebund aktiv. Dieser Bund organisierte auch sogenannte Venner-Ferienlager für Jugendliche, wo es ebenfalls zu Bekehrungen und zu Sündenbekenntnissen kam. Noch lange danach rechnete ich mit einem strafenden Gott, der alle Verfehlungensieht und ahndet. Mir steht noch ein Bild vor Augen vom Jüngsten Gericht mit dem schmalen Pfad zum Himmel und dem breiten Weg der Sünder zur Hölle. Dieses Bild hatte grossen Einfluss auf mich. Ich lebte ständig mit Schuldgefühlen, und nach der Bekehrung suchten mich nachts jahrelang apokalyptische Träume heim, weil ich mich ständig, nach jeder kleinen Lüge und nach harmlosesten Verfehlungen, als Sünderin fühlte.

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      Eva, 16, Konfirmation

      Mein Vater stammte aus einer Erfinderfamilie. Schon der Grossvater hatte seinerzeit Wasser über den Berg in unser kleines Dorf gebracht. Kein Mensch hatte geglaubt, dass das funktionieren könnte. Er schaffte es auch, Elektrizität in das zuvor recht verkommene Nest zu bringen. Danach entwickelte er kleine Elektromotoren für Posamenter-Webstühle. Die Seidenbandindustrie war damals eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Menschen in der Gegend. Mein Vater seinerseits erfand im Jahr 1950 einen Kombiherd, der gleichzeitig Holz- und Elektroherd war. Er belieferte in der ganzen Schweiz und im nahen Ausland Hotelküchen und Bauerngüter. Vater wurde Fabrikbesitzer. Daneben war er Schulpflegepräsident und Feuerwehrkommandant. Man kann sagen, dass meine Eltern im Dorf den Ton angegeben haben.

      Meine Mutter amtete als Kirchenpflege- und Frauenvereinspräsidentin. Sie stammte aus einer Lehrerfamilie. Ihr Vater nahm mich schon als kleines Mädchen mit in sein Schulzimmer. Bereits als Fünfjährige durfte ich mitmachen, wenn mein Grossvater unterrichtete. Von Anfang an war für mich sonnenklar, dass ich Lehrerin werden würde. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich endlich zur Schule gehen durfte. Von der ersten bis zur fünften Klasse war ich die Hilfslehrerin meines Klassenlehrers. Ich übte mit den schwächeren Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen. Wenn der Unterricht mich langweilte, las ich unter dem Pult heimlich ein Buch.

      Erst viel später wurde mir klar, dass mich der Grossvater, den ich so sehr liebte, sexuell ausgebeutet hat. Unterdessen glaube ich zu verstehen, warum ich bis heute auf Zuwendung häufig misstrauisch und zurückweisend reagiere.

      Ich habe vier jüngere Brüder. Sie kamen im Jahresabstand zur Welt, was eine grosse Belastung für meine Mutter war. Mich ärgerte zutiefst, dass es jedes Mal wieder ein Bruder war und nie eine Schwester. Als ich dreieinhalb Jahre alt war und mein dritter Bruder zur Welt kam, wusste man lange nicht, ob meine Mutter sich von der Geburt wieder erholen würde. Sie war ein halbes Jahr lang gelähmt, musste wochenlang im Spital bleiben und auch nachher daheim im Bett liegen. Mich brachte man in dieser Zeit bei den Grosseltern unter. Dort müssen Grossvaters Übergriffe geschehen sein. Kaum sass ich jeweils im Auto, um wieder zu den Grosseltern zu fahren, schnürte es mir den Hals zu.

      Damals war ich auch einige Wochen bei meiner Gotte in Basel in den Ferien. Ende 1944, Anfang 1945 sah ich die Kriegsfeuer im Elsass, was mir furchtbare Angst machte. Diese Ängste verstärkten sich noch durch die Ängste meines Vaters vor dem Krieg. Er war nicht militärtauglich, er war eben ein sensibler Erfinder, weder gross noch kräftig. Er zeigte uns Kindern Bombenlöcher von versehentlich im Baselbiet abgeworfenen Bomben.

      Mein Vater war ein Patron alter Schule. Er beschäftigte immer auch Behinderte im grösser werdenden Betrieb. Meine Mutter war die Sozialarbeiterin des Dorfes und kümmerte sich auch um randständige Familien. Sie war trotz ihren fünf Kindern keineswegs auf ihre Mutterrolle beschränkt und lebte mir ihre breite Kompetenz und ihre Tüchtigkeit auch vor. Sie erledigte meist in der Nacht noch die Buchhaltung für das florierende Geschäft mit den Kombiherden, das sie mit meinem Vater führte, und nahm eine wesentliche Position in der Geschäftsleitung ein. Alles, was mit Planungsarbeit zu tun hatte, fiel in ihr Ressort. Das machte sie stolz und selbstbewusst, belastete sie aber auch.

      Als Älteste übernahm ich schon früh freiwillig viel Verantwortung. Ich wollte immer ein Vorbild für meine Brüder sein. Es war mir wichtig, den Erwartungen meiner Eltern zu entsprechen. In der Folge setzte auch ich mich mein Leben lang für sozial benachteiligte Menschen ein.

      Die Eltern gaben sich Mühe, uns Kinder gleich zu behandeln. Ich musste als Mädchen nicht besonders viel Haushaltsarbeit übernehmen. Meine Mutter sagte im Gegenteil immer wieder: «Sie muss dann noch früh genug.» Wie ein Damoklesschwert hingen diese Worte jahrzehntelang über mir: Mein Frau-Sein wurde mir durch sie zum belastenden Muss. Meine Mutter hat erst mit 28 Jahren geheiratet. Vorher teilte sie ein unbeschwertes Leben mit ihrer Schwester. Mit ihr war sie viel gereist, was damals noch ungewöhnlich war. Gerne wäre meine Mutter Lehrerin geworden. Sie musste aber eine kaufmännische Ausbildung machen, weil ihren Eltern klar war, dass sie einmal heiraten würde. Ich spürte immer mehr, wie unzufrieden meine Mutter mit ihrem Leben war, besonders mit ihrer Ehe, in der sie allein zuständig war für alle Familien- und Erziehungsaufgaben.

      Uns Kindern wurde sehr früh vermittelt, dass wir mehr Glück als alle anderen Kinder um uns herum hätten, weil es uns eben besonders gut gehe. Darüber hinaus gab es nichts zu wollen. Mir und meinen Brüdern wurde so das Wünschen gründlich abgewöhnt. Ich musste vierzig und älter werden, bis ich lernte, eigene Wünsche ernst zu nehmen. Erschwerend war auch, dass mir die Mutter viele Aufgaben aus der Hand nahm und diese selbst erledigte. Dadurch war es mir auch verwehrt, aus Fehlern zu lernen. Heute sehe ich in diesem Umstand eine der Erklärungen für meine häufigen Handlungsblockaden. Schritt für Schritt lernte ich später, zu mir zu stehen, zu handeln und zu ertragen, dass es zum Leben gehört, Fehler zu machen. Heute kann ich Fehler als wichtige Lernchancen akzeptieren.

      Unsere Eltern waren auf der einen Seite unglaublich hilfsbereit und engagiert in der reformierten Kirche sowie im Blauen Kreuz. Auf der anderen Seite praktizierten sie in der Familie rigorose Erziehungsmethoden. Ich erlebte, wie hart mein ältester Bruder bestraft wurde, wenn er nicht gehorchte. Mein Grossvater, Lehrer und Pädagoge, sagte meinen Eltern, dass der Wille des Bürschleins gebrochen werden müsse – und zwar von Anfang an, sonst hätten sie später keine Chance mehr, sich durchzusetzen.

      Durch solche Erfahrungen kam ich zum Schluss, dass ich meine Wut und meine Gefühle herunterschlucken und auf die Zähne beissen müsse, um nicht anzuecken.

      Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass in einem meiner Lieblingsmärchen die Tarnkappe, mit der ein Büblein andere Menschen überlisten konnte, eine entscheidende Rolle spielte. Ich versteckte mein wahres Gesicht sehr lange unter einer imaginären Tarnkappe.

      Mit sechzehn machte ich die Aufnahmeprüfung für das Evangelische Lehrerseminar


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