Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Corinne Rufli

Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert - Corinne Rufli


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mitenand.»

      Die Bezeichnung lesbisch mag ich eigentlich nicht. Ich ziehe es vor, zu sagen, dass ich mit einer Frau lebe, und ich spreche von Frauenliebe.

      Wenn ich zurückdenke, wusste ich früher zwar schon, dass es Schwule und Lesben gibt, aber trotzdem existierten sie irgendwie nicht in meiner Wahrnehmung. Ich schwärmte für Frauen, aber wirklich bewusst war mir diese Zuneigung nicht. Als Jugendliche verehrte ich in einem Bibellesebund-Ferienlager eine Leiterin. Oder da gab es eine ältere Cousine, die ich schön fand und für die ich schwärmte. Erst sehr viel später konnte ich diese Gefühle einordnen.

      Mit Karin nahm ich in den Achtzigerjahren an einer Lesben-Tagung im Zentrum Boldern teil. Im Gegensatz zu ihr brachte es mich aber nicht aus der Fassung, als ich die vielen schönen Frauen sah. Für mich war das einfach selbstverständlich und erfreulich. Ich hatte keinerlei Berührungsängste.

      Gelegentlich verkehrten wir im Frauenzentrum Baden. Doch die angebotenen Lesbenabende interessierten uns wenig. Wichtig war mir nur, dass ich andere frauenliebende Mütter traf. Es war für mich wesentlich zu sehen, dass es auch andere Frauen mit Kindern gab, die in einer Frauenbeziehung lebten.

      Von 1991 bis 1994 war ich Grossrätin der SP. Spontan hatten damals fünf Frauen des Frauenzentrums Baden beschlossen, für den Grossen Rat zu kandidieren. Zwei von uns wurden auf Anhieb gewählt, so auch ich. Der Werbeslogan lautete: «Brave Mädchen kommen in den Himmel, aufmüpfige in den Grossen Rat.» Lange blieb ich jedoch nicht im Parlament. Das Hickhack, das Einander-nicht-Zuhören und die Unfähigkeit zu handeln wurden mir schnell unerträglich. Ich büsste bald jeden Grossratstag mit einer Migräne und wusste, dass ich mir das nicht mehr lange antun wollte.

      Heute leben Karin und ich eine reiche, glückliche Gegenwart: Der Alltag in unserer schönen grossen Wohnung mit Blick über das Reusstal, der prachtvollen Aussicht auf die Berner Alpen, die gute Nachbarschaft, die Ferienwohnung am Genfersee bringen uns hohe Lebensqualität. Auf unseren unzähligen Urlaubsreisen bin ich die Fotografin und gestalte mit Freude Fotobücher, heute natürlich digital.

      Täglich feiern Karin und ich unser Leben, und wir wachsen immer noch aneinander. Ich, eher Pragmatikerin mit dem «Talent», Unangenehmes zu verdrängen, habe von Karins Gespür für Unausgesprochenes, im Untergrund Lauerndes, viel gelernt. Bis heute führt mich ihre Frage: «Wie geht es dir jetzt, und was würdest du jetzt tun, wenn du allein wärst?» immer wieder zu meinen eigentlichen Wünschen, zum Überdenken festgefahrener Muster, zu mehr Flexibilität und Freiheit.

      Wir gehen sehr offen mit dem «Rest unseres Lebens» um, reden über unsere Vorstellungen, wie ein würdiges Ende für jede von uns zu gestalten wäre, tauschen unsere Gedanken zur Endlichkeit aus und weichen nicht aus vor den sichtbaren Zeichen des Älterwerdens.

      Nun gehen wir seit 35 Jahren unseren Weg gemeinsam, und wir haben diesen Entscheid keinen Tag bereut. Seit 2009 leben wir ausserdem in einer eingetragenen Partnerschaft und feiern unseren Hochzeitstag jedes Jahr. Wir haben beide sehr viel gewonnen an Selbstbewusstsein und an Freiheit im Umgang mit anderen.

      Seitdem wir eine Zweitwohnung am Genfersee haben und wir beide pensioniert sind, geniesse ich auch die Freiräume, die wir uns gegenseitig geben. Es ist mir wichtig, einfach einmal eine Woche für mich zu sein und nach meinen eigenen Strukturen und Programmen zu leben. Gleichzeitig dürfen wir darauf vertrauen, dass wir immer wieder dort anknüpfen können, wo wir stehen geblieben sind: Ich verliere Karin nicht, und sie verliert mich nicht.

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      Eva, heute

      «Ich bin gerne die, die ich heute bin.»

      Karin Rüegg, 77, Aargau

      Karin Rüegg (1938) ist Malerin und Dichterin. Nachdem sie ihre Karriere als Opernsängerin aufgegeben hatte, wurde sie in einem Aargauer Dorf leidenschaftliche Primarlehrerin. Sie sagt von sich, sie sei dem Teufel vom Karren gesprungen. Nach mehreren Lebenskrisen ist sie seit über dreissig Jahren mit Eva in einer glücklichen Beziehung. Den Ausdruck «lesbisch» mag sie nicht.

      Mit Mitte siebzig begann ich mich zu fragen, welche von meinen Visionen sich im Lauf der Jahre verwirklicht haben. Dabei erinnere ich mich, dass ich mir als Jugendliche vorgestellt habe, einmal in einem Zuhause zu leben jenseits von Enge, mit einem offenen Himmel voller Sterne über mir: einem Ewigkeitsmantel – und zu meinen Füssen die Lichter der Welt.

      Heute lebe ich so: Nachts sehe ich die Lichter und den Sternenhimmel über dem Reusstal, und ich fühle mich geborgen. Ich lebe an einem Ort, wo ich zu Hause bin und glücklich, zusammen mit Eva. Das ist die Krönung des Ganzen: Ich bin nicht mehr alleine unterwegs.

      Über mein Leben nachdenken, heisst, den «Abstieg in den Brunnen meiner Vergangenheit» wagen. Ich spüre, dass ich zurückgehen muss in eine Zeit, in der es für mich noch keine Worte gab. Als Stütze nehme ich meine Gedichte mit. In Gedichten kann ich immer wieder Fuss fassen in der Welt und Dinge in meinem Leben sinnhaft zusammenbringen. Ich weiss, dass das Vergangene zwar besteht, aber es ist nicht nur gesät, es ist auch geerntet.

      Gern erinnere ich mich an den Garten meiner Kindheit. Er war ein Paradies. In ihm stand ein Birnbaum, im Frühling mit allabendlich jubelnder Amsel im Geäst. Schneeglöcklein, Hyazinthen und Hortensien blühten. Es war ein Garten mit Erdbeeren, Johannis- und Brombeeren im Sommer, Trauben im Herbst. Alles nährte mich, vielleicht mehr als meine Eltern mich nähren konnten.

      Meine Eltern waren Menschen von sehr unterschiedlicher Herkunft und Wesensart. Mein Vater war aus Angst gemacht, und er verbreitete Angst. Meine Mutter war aus Wörtern gebaut, und sie lehrte mich das Wort. Das Wort war kühl, aber es faszinierte mich.

      Mein Vater war ein im Innersten verletzter Mensch. Sein Vater war Alkoholiker, die Mutter zog ihre zehn Kinder mithin alleine gross und arbeitete nebenher auch noch in einer Textilfabrik. Mein Vater war zwar gescheit, aber ohne Halt, ohne innere Heimat.

      Meine Mutter stammte aus ganz anderen Verhältnissen, bäuerlichen, und war eng methodistisch erzogen. Sie war eine energische, intelligente Frau. 1937 kam sie als junges Mädchen nach Zürich. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass sie öfter einen Mann beobachtet habe, der an ihrem Haus, in dem sie als Dienstmädchen arbeitete, vorbeiging. Der habe so unzufrieden und mürrisch in die Welt geschaut, dass sie immer wieder gedacht habe: Also so einen wolle sie dann schon nie. Das kam dann allerdings anders, denn der mürrische Mann konnte offenbar durchaus charmant sein. Meine Mutter wurde schwanger. Es habe fünf Monate gedauert, bis sie ihren Zustand erkannt habe.

      Ich stelle mir vor, dass ich in der ersten Zeit in meiner Mutter geborgen war. Immerhin bin ich die Frucht einer Liebesbeziehung. Doch in dem Moment, als meine Mutter realisierte, dass sie schwanger war, musste sie zur Salzsäule erstarrt sein. Sie war Meisterin im Verdrängen. Was nicht sein durfte, das war nicht! Von da an wird für mich keine Bewegung mehr möglich gewesen sein. Sie schnürte mich ab. Die Angst vor Enge hat mich mein Leben lang begleitet. Ich wurde mit aller Kraft unsichtbar gemacht, sodass an der Hochzeit, als meine Mutter im achten Monat mit mir schwanger war, niemand diesen Umstand wahrgenommen hat.

      Einen Monat später, im April 1938, kämpften meine Mutter und ich drei Tage und drei Nächte lang um unser je eigenes Leben. Wir gewannen beide, zahlten auch beide den hohen Preis einer Depression, die bei meiner Mutter bis zur Geburt meines Bruders andauerte. Ich hatte eigentlich keine Mutter. Ich habe nur eine vage Erinnerung an eine leere, kalte Welt. Meine Mutter konnte keine Beziehung zu mir aufbauen.

      Die Leere war während langer Zeit schmerzhaftes Thema meiner Bilder und meiner Gedichte. Es dauerte Jahre, bis mir die Leere zum Raum wurde für Fülle und Erfüllung.

      Nicht leer

       ist die Leere

      der Raum ist sie

       dazwischen.

      In dieser Zeit hat sich mein Vater meiner in überschäumender Freude bemächtigt. Ich war der Mittelpunkt seines Lebens. Er hatte eine depressive Frau und ein kleines Mädchen, das ihm


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