Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Corinne Rufli
die fand, dass ich ein Mädchen sei, das später heiraten werde, während andererseits noch vier Buben da seien, die studieren sollten. Ich bin meiner Mutter für ihre Unterstützung bis heute unendlich dankbar. Ich trat unter Direktor Konrad Zeller, einem strenggläubigen Calvinisten und Pietisten, in das Seminar ein, das für Mädchen noch nicht lange offenstand. Viele der Seminaristinnen und Seminaristen liessen sich durch den strengen Verhaltenskodex, der gelehrt wurde, unter Druck setzen. Insbesondere Erotik und Sexualität waren stark tabuisiert. Wer sich verliebte, musste sich im Büro des Direktors unter Umständen peinlichen Befragungen und Ermahnungen aussetzen und Verhaltensweisen, die als sündig galten, konnten zum Ausschluss aus der Schule führen, wenn jemand erwischt wurde.
Ich war sehr lange diesem calvinistischen Denken verpflichtet. Vorehelicher Sex war für mich undenkbar. Mit Rico, einem Mitschüler, war ich etwa ein halbes Jahr lang eng befreundet. Aber zu mehr als zu Küssen und Spaziergängen Hand in Hand kam es zwischen uns nicht. Die Grenzen waren für mich ganz klar: Hätte er mehr von mir gewollt, hätte ich mich sofort von ihm getrennt.
Im Verlauf der Ausbildung fand eine Projektwoche in Zoologie unter der Leitung unseres Biologielehrers statt. Er trug die gleiche Art Schnauz wie mein Grossvater. Dadurch müssen unbewusste Erinnerungen an die sexuelle Ausbeutung in mir aufgekommen sein. Denn kurz bevor diese Intensivwoche begann, bekam ich plötzlich vierzig Grad Fieber. Man brachte mich ins Krankenzimmer, wo ich halluzinierte und Lähmungserscheinungen hatte. Der Kurs fand ohne mich statt. Wenn ich jetzt über dieses Erlebnis spreche, fühle ich mich erneut wie gelähmt. Das widerfuhr mir schon lange nicht mehr: Eine Mattscheibe, Erinnerungsfetzen, die hochkommen und mir den Hals zuschnüren …
Diese lange zurückliegenden Übergriffe waren mir damals noch nicht bewusst. Deshalb verstand ich auch nicht, warum dieser Lehrer so heftige Reaktionen in mir auslöste. Den Zusammenhang begriff ich erst, als ich mich viel später, mit über vierzig Jahren, in einer Therapie mit dem Thema auseinandersetzen konnte.
Eva, 33, mit ihrer Tochter
Nicht nur die Erinnerungen an meine Kindheit und Jugendzeit sind teilweise schmerzhaft, sondern auch jene an meine Verlobungszeit und an die 15-jährige Ehe. Immer wieder habe ich mich krampfhaft angepasst. Ich glaubte, die Erwartungen der Aussenwelt und besonders diejenigen der Eltern erfüllen zu müssen. Doch wo blieb ich mit meinen eigenen Bedürfnissen und Träumen?
Während der Ausbildung zur Erwachsenen-Kursleiterin lernte ich nicht nur Karin kennen, ich lernte vor allem auch mich neu kennen. Endlich spürte ich wieder Energie und Lust, etwas anzupacken. Ich fing an, an mich zu glauben, lachte viel mit den inspirierenden Frauen meiner Ausbildungsgruppe und fühlte mich wahrgenommen und angenommen. Ich nahm meine Arbeit als Heilpädagogin wieder auf und konnte in eine Praxisgemeinschaft mit Psychologinnen eintreten. Die Arbeit ausser Haus und der Austausch mit den Kolleginnen taten mir gut.
Der Zufall wollte es, dass Karin und ich in einer Ausbildungswoche im gleichen Zimmer untergebracht waren. Ich fühlte mich ausgesprochen wohl in ihrer Gegenwart. Niemand kannte mich inzwischen besser als sie. Am Ende der Woche sassen wir beide ein letztes Mal auf dem Bett im gemeinsamen Zimmer. Karin gab mir einen sanften Kuss auf den Mund. Ich war elektrisiert und verzaubert. Aber es machte mir auch Angst. Daheim schrieb ich umgehend einen Brief an Karin, in dem ich versuchte, mich von ihr und dem Geschehenen zu distanzieren. Karin gab vor, meine Bedenken und Ängste zu verstehen, war ich doch verheiratet, und sie sei in einer langjährigen Frauenbeziehung gebunden.
Vordergründig glaubten wir beide unseren Versicherungen. Dennoch telefonierten wir häufig, und ich fuhr fortan mit Karin in ihrem roten Honda Cabriolet an die Wochenendkurse. Immer mehr widerstrebte es mir nach den Wochenenden, daheim wieder auszusteigen, und ich mochte auch gar nicht mehr erzählen, wie gut es mir ergangen war.
Dann kam der unwirkliche und unvergessliche Abend im Januar 1981, zwei Monate vor meinem vierzigsten Geburtstag. Karin sass mir in meiner Wohnung gegenüber. Hans war in Frankreich und machte die neue Segelyacht bereit für seinen jüngsten Traum: eine Weltumsegelung mit Frau und Kindern. Ich hatte Karin gebeten, vorbeizukommen statt nur zu telefonieren. Sie kam, hatte aber keine Lust zu reden. Sie wollte einfach da sein, bei mir. Beim Abschied umarmte und küsste mich Karin – im selben Moment ging im ganzen Städtchen das Licht aus, und wir sassen beim Schein einer Kerze im Dunkeln. Am nächsten Tag war in der Zeitung zu lesen, dass eine Katze sich ins Transformatorenhäuschen verirrt und so den Stromausfall verursacht hatte …
In der Anfangszeit mit Karin war ich wieder froh um meine Tarnkappe, denn unsere Beziehung musste zunächst im Verborgenen stattfinden. Ich spürte aber deutlich, dass ich die Geheimhaltung nicht lange ertragen würde. Nachdem ich Karin körperlich nähergekommen war, sass ich an einem Sonntag in einer Predigt in der vordersten Kirchenbank. Während des Abendmahls fiel plötzlich ein Sonnenstrahl durch das Kirchenfenster genau auf mich. Für mich gab es keinen Zweifel mehr: Meine Liebe zu Karin, die ich als so überwältigend erlebte, konnte nur ein Geschenk Gottes sein. Kurz danach legte ich Hans gegenüber alles offen. Glücklicherweise hatte er sich gleichzeitig in eine meiner Freundinnen verliebt, wenn auch nur platonisch.
Es kam die schönste Zeit meines bisherigen Lebens: Ich strahlte vor Glück und wollte und konnte das nicht mehr verstecken. Karin und ich liefen in gelben Stiefeln durch den Regen – an der Hand die Kinder, die eine ganz neue Mutter kennenlernten. Ich erlebte mit Karin zum ersten Mal auch sexuelle Erfüllung.
In diese Zeit meiner Rückkehr auf seelisches Festland fielen die letzten Vorbereitungen für die kühne Unternehmung von Hans, die Welt zu umsegeln, nur mit Frau und Kindern in einer kleinen Yacht auf hoher See. Ich, die mit Karin endlich Freiheit zu entdecken begann, dachte in panischer Angst an diese Reise, an das Eingesperrtsein auf dem engen Boot, zusammen mit dem Mann, den ich zwar schätzte, jedoch nicht liebte. Die Kinder, die bald aus ihrem Beziehungsnetz herausgerissen werden sollten, waren inzwischen acht und sechs Jahre alt. Der Gedanke, ihnen auf mich allein gestellt während zwei oder drei Jahren Lehrerin und Mutter sein zu müssen, war für mich furchtbar, insbesondere auch weil ich wusste, dass ich auf dem unablässig schwankenden Boot schwer seekrank werden würde.
Während der letzten Vorbereitungsmonate nahm ich innert kürzester Zeit elf Kilogramm ab. Hans belastete mich mit einer eigenartigen Geschichte von einem Mann, der vom Bürgenstock heruntergesprungen sei, weil sich seine Frau von ihm trennen wollte. Ich litt unter Todesängsten und stand unter einem unerträglichen Druck. Ich fürchtete, dass ich auf dem Schiff in Verzweiflung über Bord gehen oder verrückt werden könnte. Karin war damals wie ein Anker für mich. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass Verrücktwerden nicht Schicksal, sondern eine Wahl sei, und sie versicherte mir, dass ich diesen Weg nicht wählen werde. Da hatte ich einen wichtigen Traum: Ich stand an einem Scheideweg in einer eiskalten Winterlandschaft. Alles war gefroren und schneebedeckt. Auf der einen Seite sah ich meinen toten Bruder Heiri, der wollte, dass ich mit ihm gehe. Auf der anderen Seite stand Anna, ein Nachbarskind, in einem farbigen Mäntelchen. Sie wünschte, dass ich sie heimbegleite, da sie den Heimweg nicht kenne. Ich entschied mich, das Mädchen heimzubegleiten. Ich bin überzeugt davon, dass diese Entscheidung im Traum für mich lebensrettend war.
Eva, 45
Der Plan zur Weltumrundung nahm konkrete Form an. Hans beabsichtigte, mit den Kindern vorerst bis Alicante zu segeln. Ich sollte nachreisen und bis Madeira mitsegeln. Ein Bekannter mit Hochseeerfahrung wollte Hans und die Kinder über den Atlantik begleiten, während ich im Sinn hatte, von Madeira aus in die Schweiz zurückzukehren. Das hatte ich mir so ausbedungen. Geplant war, dass ich später in die Karibik fliegen, die Kinder besuchen und sie je nach ihrem Befinden eventuell sogar in die Schweiz zurückholen werde. Doch alles kam anders.
Zwischen Gibraltar und Madeira wurde ich wieder heftig seekrank. In der anschliessenden Nacht wendete Hans das Boot. Er hatte eingesehen, dass die geplante Segelreise meine Kräfte übersteigen würde. Er schlug vor, in der Schweiz gemeinsam einen Neuanfang zu wagen. Für mich gab es an diesem Punkt jedoch kein Zurück mehr, kein Zurück in diese Ehe.
Irgendwie