Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Corinne Rufli

Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert - Corinne Rufli


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Im letzten Moment hatte ich realisiert, dass mein Leben auf dem Spiel stand. Es ging um Sein oder Nichtsein. Ich traf die folgenschwere Entscheidung, die Familie trotz schwerster Schuldgefühle – vor allem den Kindern gegenüber – zu verlassen. Selbst wenn mein Beschluss Hans und den Kindern grossen Schmerz zufügte.

      Hans segelte nach unserer Trennung mit den Kindern und seinem Freund weiter über den Atlantik. Von der Karibik aus teilte er mir mit, dass er mit den Kindern allein zur Weltumsegelung aufbrechen werde. Es bestehe schliesslich keine Wahrscheinlichkeit mehr, dass ich zur Familie zurückkehren werde.

      Kaum war ich zurück in der Schweiz, bereitete ich die Scheidung vor. Das bedeutete aber auch, dass ich es aushalten musste, die Kinder mehr als zwei Jahre lang nicht zu sehen, dass ich zu ertragen hatte, dass Hans mit ihnen allein weitersegelte durch Piratenmeere und Stürme. Bewusst war mir ebenfalls, dass während der langen Reise die Beziehung der Kinder zum Vater sehr eng werden würde. Ich ahnte bereits, dass ich die Kinder nach ihrer Rückkehr nicht einfach wieder zu mir zurückholen könne. Die Befürchtung, dass sie künftig beim Vater leben würden, versuchte ich allerdings so lange wie möglich zu verdrängen.

      Während die Kinder auf der Reise waren, schickte ich ihnen an jede Hafenadresse postlagernd Briefe mit Tonbändern, auf denen ich ihnen Geschichten erzählte.

      Ohne Therapie und ohne Karin hätte ich es nicht geschafft, mit meinen schweren Schuldgefühlen umzugehen und weiterzuleben. Dennoch war mir klar, dass ich auf gar keinen Fall in meine alte Existenz zurückkehren konnte. Ich begann wieder mit einem vollen Pensum als Heilpädagogin zu arbeiten und übernahm eine Einschulungsklasse.

      Im Hinblick auf die spätere Rückkehr der Kinder war Karin und mir klar, dass wir mehr Wohnraum brauchten. Recht unbedarft schauten wir uns nach einem geeigneten Haus in unserer Region um. Wir wurden schnell fündig. Dieser rasche Entscheid zum Hauskauf nach so kurzem Zusammenleben mit Karin war für mich ein grosser und gewagter Schritt. Doch meine Bedenken erwiesen sich glücklicherweise als unbegründet. Wir gestalteten unser neues Heim gemeinsam. Ich hatte mein eigenes Zimmer. Das war der Himmel auf Erden für mich! Ich verfügte frei über einen eigenen Lohn, nicht nur über ein Taschengeld. Zusätzlich war ich getragen von einem schwesterlichen Freundeskreis.

      Die Zeit nach der Rückkehr von Hans und den Kindern nach mehr als zwei Jahren Abwesenheit war für alle nicht einfach. Hans und ich vereinbarten, dass die Kinder zusätzlich zu Ferienaufenthalten alle 14 Tage das Wochenende mit Karin und mir verbringen sollten. Zunächst versuchten die Kinder auf ihre je eigene Weise, wieder eine Beziehung zu mir aufzubauen. Susanne reagierte eher mit Trotz und Verweigerung. Patrick behielt seinen Schmerz tief in seinem Innersten und reagierte mit medizinisch unerklärlichen Fieberschüben. Ich versicherte den Kindern immer wieder, dass ich mich nicht ihretwegen, sondern meinetwegen von Hans getrennt hatte. Mit einer suizidalen oder psychisch kranken Mutter wäre den Kindern nicht gedient gewesen.

      Hans und ich schafften es glücklicherweise, respektvoll miteinander umzugehen. Hans zeigte Grossmut. Er liess mich gehen, ohne meinen Schritt zu verstehen. Trotzdem verzieh er mir mit der Zeit. Wichtige Entscheidungen, welche die Kinder betreffen, haben wir seither gemeinsam getroffen, obwohl Hans das Sorgerecht hatte.

      Hans lernte später seine heutige Frau kennen. Für mich war das eine grosse Erleichterung. Heute pflege ich mit beiden einen guten Kontakt. Unterdessen haben Susanne und Patrick eigene Kinder und ich bin sechsfache glückliche Grossmutter! Am liebsten treffe ich die Enkelkinder einzeln zu Unternehmungen, die individuell auf jedes Kind zugeschnitten sind. Wir kochen gemeinsam, gehen gelegentlich ins Kino oder an eine Ausstellung, diskutieren und malen ganz besonders gern in einem Malatelier. Karin und ich geniessen es immer, die Kinder zu treffen und an ihrer Entwicklung teilzunehmen. Karin hat eine einzigartig prägende Beziehung zu beiden jungen Familien. Sie ermutigt alle, ihre individuellen Wege zu verfolgen. Gerne erzählt sie von Erlebnissen aus ihrer eigenen Geschichte, in der sie sehr oft aus eigenen Fehlern lernen musste.

      Karin und ich haben durch unseren Beruf als Lehrerinnen viele Gemeinsamkeiten. Wir ergänzen uns wunderbar. Ich liess mich anstecken von Karins Liebe zur Kunst, zur Malerei und zur Lyrik. Meine schulischen Schwerpunkte waren Heilpädagogik, Methodik und Didaktik. Zudem engagierte ich mich in der Gewaltprävention, wovon Karin ihrerseits profitierte. Im privaten Alltag durchlebten wir anfänglich eine äusserst symbiotische Phase, denn wir hatten beide schwere seelische Verletzungen mit in die Beziehung gebracht. Wir pflegten gegenseitig unsere Wunden. Heute nennen wir die erste Zeit unserer Beziehung eine Spitalbeziehung. Wunden konnten in dieser Zeit zwar heilen, aber wir wurden nicht in eigener Verantwortung erwachsen. Es war für uns deshalb wichtig, die je eigene Geschichte mithilfe einer Therapeutin aufzuarbeiten.

      Daneben erlebten wir auch Rivalität: Ich beneidete Karins Sprachgewandtheit, ihre Fähigkeit, sich kurz und klar auszudrücken. Häufig ging es bei Konkurrenzthemen um Beachtung. Oder um sichtbare Unterscheidung: In Sachen Kleidung und Farben hatten wir einen ähnlichen Geschmack. Wenn die eine Rot tragen wollte, hatte die andere garantiert auch Lust auf Rot. Und wir beide in Rot, das ging gar nicht, glichen wir uns doch äusserlich schon genug. Zwar hatte ich mir als Kind sehnlichst eine Schwester gewünscht – ein doppeltes Lottchen. In der Realität hatte eine solche Nähe aber gelegentlich auch ihre Schattenseiten. Heute gibt es glücklicherweise nur noch selten Momente der Empfindlichkeit. Viel mehr Gewicht hatten befreiende Erfahrungen: Ich musste plötzlich wieder Nägel feilen, weil ich sie mir nicht mehr abbiss. Ich hatte keine Menstruationsbeschwerden mehr, und später wurde ich auch meine Allergien grösstenteils los. Auch suchte ich nicht mehr aufwendig nach der einzig richtigen Lösungen für Alltagsfragen: «Gut ist gut genug», pflegt Karin zu sagen. Insgesamt bin ich viel flexibler geworden.

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      Eva, 47

      Dass ich wieder in meinem Beruf, der auch meine Berufung war, tätig sein konnte, half mir generell und in der Partnerschaft zu mehr Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein. Ich hatte endlich etwas zu sagen. Welch ein Zugewinn!

      Ein wesentlicher Schwerpunkt meiner Schultätigkeit war die Präventionsarbeit. Schon an meiner ersten Stelle hatte ich die sexuelle Ausbeutung an einer meiner Schülerinnen aufgedeckt. Im Frauenzentrum Baden lernte ich andere von sexueller Ausbeutung betroffene Frauen kennen, gründete mit ihnen die Fachstelle Limita und entwickelte mit einer Psychologin zusammen ein Präventionsprogramm für Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen. Es war mir ein besonderes Anliegen im Schulalltag, Mädchen in ihrem Selbstwert zu stärken und Buben ihren Gefühlen näherzubringen.

      Meine Liebe zu Karin lebe ich offen. Ich erzählte im Teamzimmer an der Schule von unseren Ferien wie andere auch. Doch ich hausierte nie damit, lesbisch zu sein. Wer es wissen wollte, der wusste es.

      Meiner Herkunftsfamilie gegenüber verhielt ich mich von Anfang an völlig transparent. Nach meiner Rückkehr von der Yacht und der Trennung von Hans packte ich als Erstes mein Köfferchen, reiste von Bruder zu Bruder und erzählte, welch dramatische Veränderungen sich in meinem Leben abspielten. Alle waren sie zwar überrascht, da sie Hans und mich immer als ideales Paar erlebt hatten, doch ich spürte seitens aller Brüder auch Offenheit und Verständnis. Karin war von Anfang an willkommen. Alle waren neugierig, sie kennenzulernen.

      Am meisten staune ich auch heute noch über meine ehemalige Schwiegermutter. Sie liebte mich bis zu ihrem Ende von Herzen, obwohl ich ihrem Lieblingssohn so wehgetan hatte.

      Ein grosses Geschenk machte mir meine Gotte Emmi: Sie vertraute mir an, dass sie vermute, dass auch meine Mutter gerne mit einer Frau gelebt hätte. Einmal erzählte sie mir von einem Traum und überbrachte mir Grüsse von meiner Mutter.

      Den Kindern und später den Enkelkindern gegenüber kommunizierten wir von Anfang an, dass Karin und ich ein Paar sind und dass Frauen sich auch in Frauen verlieben können, genauso wie Männer sich in Männer. Die Hauptsache sei, jemanden lieben zu können. Lustig war das bei den Enkelkindern. Ich fragte sie einmal direkt, wie sie es finden, dass ihr Grossmami mit einer Frau, also Karin, zusammen sei. Der kleine Justin sagte nur: «Ja, normal dänk!» Kürzlich wurde die sechsjährige Enkelin von der Schulpsychologin gefragt, wann sie Geburtstag habe. Stolz gab sie Antwort und fügte bei: «Und im Fall,


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