Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Corinne Rufli

Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert - Corinne Rufli


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Vater wurden für mich zum Trauma. Es ist schwierig, mich gedanklich in dieses Unbegreifliche zurückzuversetzen, das damals mit mir geschah. In der Folge wurde ich zum «Fluchttier»: Nahe Beziehungen ängstigten und ängstigen mich immer wieder. Es fällt mir schwer, mich vertrauensvoll auf Nähe einzulassen.

      Erst viele Jahre später während einer Therapie konnte ich die Geschehnisse mit meinen Eltern verarbeiten. «Bin ich existenzberechtigt?» – Mit dieser Frage ringe ich noch immer gelegentlich: Trotz Beziehung, Bildern, Gedichten und Erfolg bin ich auch noch heute nicht immer sicher, ob ich sein darf.

      Dennoch habe ich Schritt für Schritt Fuss gefasst in der Welt. Geholfen haben mir dabei das Schreiben von Gedichten und das Malen. Vielleicht ist meine Lebensleistung, dass ich mir die richtigen Werkzeuge, die richtigen Hilfen geholt habe, um zu überleben. Ich bin ausgesprochen organisiert heute, lebe sehr geordnet und bürgerlich. Gleichzeitig habe ich mir meine Eigenwilligkeit bewahrt. Ich schaffe offenbar immer wieder den Spagat zwischen eigen sein und einen Platz haben in der Welt.

      1941 bekam ich die Kinderlähmung – und meinen Bruder. Als ich geheilt vom Kinderspital heimkam, hatte sich mein Bruder eingenistet, und die Mutter war von allen Depressionen geheilt. Sie konnte für diesen Sohn auf einmal Gefühle zeigen und Zärtlichkeit. Ich glaubte damals, dass das damit zusammenhänge, dass mein Bruder ein Bub war. Gewieft wie ich war, beschloss ich, selber mehr Bub zu werden als alle übrigen Buben zusammen. Ich rannte schneller als der schnellste Bub im Quartier, kletterte auf die höchsten Bäume, und später in der Schule rechnete ich wie eine Weltmeisterin. Gleichzeitig war ich eifersüchtig auf alles Männliche, neidete Männern ihre vermeintliche Unabhängigkeit, vor allem aber ihr unverdientes Angesehensein. Allen Mühen zum Trotz gelang es mir aber nicht, ein Bub, geschweige denn ein Mann zu werden. Um Ansehen allerdings ging es mir ein Leben lang. Heute, so denke ich, geniesse ich Ansehen als die Frau, die ich geworden bin.

      Im Jahr, als mein Bruder zur Welt kam, wurde mein Vater zum Aktivdienst eingezogen und verschwand buchstäblich über Nacht sang- und klanglos von meiner Bühne. Als er 1945 zurückkam, war er ein Fremder für mich: ein Gefährlicher und Gefährdeter. Die Männer im Militärdienst waren völlig lahmgelegt, warteten auf den Krieg, das Gewehr im Anschlag. Mein Vater kam als Alkoholiker zurück. Was sich dann in unserer Familie abgespielt hat, war schwer zu ertragen. Ich hatte unsägliche Angst vor meinem Vater. Jede zweite Nacht kam er betrunken nach Hause und randalierte über Jahre, über Jahrzehnte hinweg. Mein Vater war grundlos und sinnlos eifersüchtig, bedrohte meine Mutter immer wieder, tobte und drohte, uns alle umzubringen. Ich versuchte irgendwie am Leben zu bleiben. Ich zog mich immer mehr in mich selbst zurück, zeichnete viel und baute mir meine eigene, künstliche Welt.

      Für mich hängt der Entscheid, mit einer Frau zusammenzuleben, mit meiner Beziehung zu meinem Vater zusammen. Der Weg, als Frau eine Frau zu lieben, war ursprünglich sicher unbewusst gewählt, ein Schritt aus der Verzweiflung heraus. Ein Entscheid als Gegenentwurf zu dem, was sich meine Mutter hat gefallen lassen von ihrem Mann.

      Meine Schulzeit wurde von zwei einschneidenden Erfahrungen überschattet. Früh zeigte sich, dass ich Mühe hatte mit der Orthografie. Erst viel später, als ich selber Lehrerin war, erkannte ich, dass ich legasthenisch bin. Ich brauche auch heute noch gelegentlich einen Duden. Zu meiner Zeit galt als dumm, wer nicht richtig schreiben konnte. In der vierten Klasse schrieb ich in einem Diktat 34 Fehler. Ich schämte und hasste mich für meine Schwäche. Später, als Lehrerin, erzählte ich meinen Kindern, wenn sie an einer Aufgabe zu scheitern drohten, diese Geschichte und machte ihnen Mut: «Du kannst es schaffen – schau mich an, ich habe es doch auch geschafft!»

      Die andere Erfahrung war ebenso tiefgreifend: Ich wuchs als Kind armer Leute am Zürichberg in einer Umgebung mit lauter reichen, gesellschaftlich gewandten Leuten auf. War ich einmal bei Freundinnen zum Essen eingeladen, wusste ich mich nicht zu benehmen, wusste nicht, wie man «schön» isst, und zitterte innerlich vor Angst und Scham. Dieses Zittern beim Essen kenne ich bis heute.

      Zum ersten Mal verliebt war ich in der dritten Klasse, und zwar zweifach, in einen Buben und in ein Mädchen. Erst in der Pubertät verschwanden Buben als Liebesobjekte allmählich aus meinem Leben, und zunehmend himmelte ich Mädchen an. Ich wusste jedoch, dass das irgendwie falsch war, und fühlte mich orientierungslos.

      Als 16-Jährige schwärmte ich für Königin Elisabeth und hängte sämtliche Bilder von ihr auf, deren ich habhaft werden konnte. Meine Mutter reagierte darauf spürbar irritiert. Das löste bei mir Verwirrung und Selbstzweifel aus. Als ich dann wirklich realisierte, was mit mir los war, und dass das offensichtlich nicht normal war, fiel ich aus allen Wolken in ein tiefes Loch. Damals, Mitte der 1950er-Jahre, war das Thema Frauenliebe noch völlig tabu. Dass gleichgeschlechtliche Liebe ein Teil unserer Lebensmöglichkeiten ist, wurde erst viel später öffentlich thematisiert. Ich fühlte mich wie in einem Dornröschenschloss, verwachsen und verwunschen. Ich kämpfte mich alleine durch dieses Dickicht. Frauenliebe gab es nicht. Das war eine verrücktmachende Situation: Es gab mich nicht. Ich wanderte verstört durch die Welt, wusste nicht, wer ich war und wozu ich war. Ein Ausweg wäre die Psychiatrie gewesen. Da muss es an meiner Wiege jedoch ein paar gute Feen gehabt haben, die das verhinderten.

      Dennoch rutschte ich von einer Verliebtheit in die andere. Immer mit dem Gefühl, dass das eigentlich nicht sein darf. Es gab weder Wörter noch Bilder für meine Empfindungen. Meine Verliebtheiten waren einerseits Rettungsanker, die mich emotional am Leben hielten, andererseits zerrissen sie mich. Ich war eine Liebende wie Cherubin in «Figaros Hochzeit», schwärmte sämtliche Frauen an. Als Cherubin liess ich mich treiben von den Energien der Sexualität, der Liebe, von Angezogensein und Zurückgestossenwerden. Ein Labyrinth. Wenn das Bild eines Labyrinths irgendwo hingehört, dann in meine Pubertät. Ich versuchte mich zu finden, weit davon entfernt zu wissen, wohin das führt.

      Schüchterne Bekanntschaften fanden in einem hermetisch abgeschirmten Raum statt. Das waren erotische Begegnungen, jenseits aller Bewusstheit. Leiden pur. Überlebt habe ich diesen Zustand mit der Überzeugung, dass, wer in einen Tunnel hineinfährt, auch wieder hinausfindet.

      Das war die Zeit, in der ich – nach einem Opernbesuch in Zürich – mit dem Singen begann, da war ich 16. Singen eröffnete mir einen Überlebensweg. Das Lied vom «Nöck»: «Wer singt, darf in den Himmel gehn» traf einen Nerv in mir. Ich war plötzlich überzeugt, dass ich als Künstlerin einen Ort bei Gott und den Menschen finden würde. Musik wurde für viele Jahre zum tragenden Element meines Lebens. Ich wollte Sängerin werden, und ich wurde es auch.

      Ursprünglich habe ich eine Verkäuferinnenlehre gemacht. Gleichzeitig trieb ich meine Gesangsausbildung voran. Ich finanzierte als Konfektionsverkäuferin an der Bahnhofstrasse in Zürich meine Gesangsstunden. Mit 23 Jahren beschloss ich, in München vertieft Musik zu studieren. Mit dem spärlichen Lohn meiner Arbeit als Haushaltshilfe bezahlte ich mein Zimmer und meine Studien. Als ich den ersten Preis für Gesang im Musikwettbewerb der Deutschen Industrie gewann, konnte ich mich ganz auf die Verwirklichung meiner Träume konzentrieren.

      In dieser Zeit in München lernte ich meine erste grosse Liebe kennen. Ursula erkannte hinter meiner grossartigen Fassade mühelos das verstörte, einsame Kind. Sie nahm mich wie eine verwaiste kleine Katze auf den Schoss und an ihr Herz, und sie nährte mich mit Achtsamkeit, mit Wärme und ihrem immensen Wissen in Literatur und Geschichte. Sie begleitete meine ersten Gehversuche in der Lyrik, die mir unverzichtbar werden sollte. Wir lebten eine innige und glückliche, intime Zweierbeziehung. Ich bin seelisch in Ursulas Liebe weitgehend gesund geworden. Ursula führte jedoch ein relativ isoliertes Leben und wagte nicht, nach aussen zu mir zu stehen. Zunehmend wurde dieser Umstand für mich zum Gefängnis. Ursulas Mutter war mir gegenüber misstrauisch, sie durchschaute unsere Beziehung. Als ich viele Jahre später, mit vierzig, Eva kennenlernte, trennten sich unsere Wege. Bis heute sind wir einander jedoch unverbrüchlich freundschaftlich verbunden. Ursula ist es, die meine Gedichte redigiert, die mich literarisch anregt oder zurückbindet.

      Ich habe Jahre darauf verwendet, um mir den Traum, Opernsängerin zu werden, zu erfüllen. Trotz eines Engagements an der Klagenfurter Oper, das mir Erfolg und viele solistische Auftritte ermöglichte, würde ich das Projekt «Opernsängerin» als Zwischenstation verbuchen, vielleicht sogar als gescheitert. Aber es hat mir geholfen,


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