Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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historischen Arbeit.

      Mein Ziel ist es, die Erzählungen der Geschwister über ihren Beruf und ihren Alltag, über ihre Familie und ihre Umwelt in verschiedenen Quellen zu verfolgen. Es ist eine Suche auf der Schwelle zwischen Geschichte als erzählter Handlung und Leben als gelebter Erfahrung, wie dies Paul Ricœur in «Narrative and Interpretation» beschreibt.4 Eines meiner Hauptinteressen gilt dabei dem Akt des Erzählens als einer Konstruktion gelebter Realitäten, die in den Quellen erscheinen. Wenn individuelle Erfahrung ernst genommen werden soll als Erkenntnisquelle für historische Forschung, so ist es wichtig, unterschiedlichen Erzählungen und Erzählstrategien einzelner Personen zu folgen, die den individuellen Geschichten Raum geben. Zum Teil bestehen diese aus purem Zufall, zum Teil sind sie strukturiert, aber sie zeigen die Spuren der Wahrnehmungen und Bedeutungsmuster einer bestimmten Person.5 Diese einzelnen Spuren übereinandergelegt ergeben ein Netz von Geschichten, das kaleidoskopartige Einblicke in die Handlungsspielräume und Vorstellungswelten eines Geschwisterkollektivs gibt.

      Die vorliegende Geschwisterkonstellation ergibt eine eigenartige Kombination von Kategorien: Frau–Schwester–ledig. Mann–Bruder–verheiratet. Die Kategorien scheinen die dualistischen Schemen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Europas im 19. Jahrhundert festgemacht wurden, gleichzeitig zu stören und zu parodieren. Die Arbeit erzählt Geschichten entlang der unterschiedlichen Linien dieser Kategorien und fragt nach den Weisen, wie diese Familiengeschichten, Frauengeschichten, Männergeschichten erzählt, tradiert und verhüllt werden.

      Familie ist als System definiert durch verschiedenste Diskurse. Was Familie sei und wie sie zu verstehen sei, wandelt sich je nach Zeit und Kontext.6 «Familie» als ein soziales System kann als Einlassstelle in vergangene Gesellschaften verstanden werden: «Jede historische Gesellschaft, jede gesellschaftliche Schicht wird die für sie typischen Familienformen hervorbringen.»7

      Der Blick auf Geschwister und deren besondere Beziehungsstruktur innerhalb der bürgerlichen Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fokussiert ein bestimmtes Familienmodell. Prägend für die bürgerlichen Vorstellungen der idealen Familie sind die literarischen Bilder von Schutz und Geborgenheit, von Stabilität und Harmonie, die sich in Romantik und Biedermeier boomartig verbreiteten.8 Dabei ist es interessant, welche Rolle Geschwister innerhalb dieser Vorstellungen spielen, und zwar nicht nur während ihrer geteilten Kindheitszeit, sondern auch und vor allem durch die Jahre ihres Erwachsenenlebens.9 Das nähere Eingehen auf die Tatsache, dass die meisten Menschen in Geschwisterkonstellationen gelebt haben und leben, bringt wichtige Motivationen innerhalb von Handlungsspielräumen historischer Akteure zutage und ergänzt oder relativiert bisher stärker beachtete Kategorien, wie zum Beispiel Heiratsstrategien oder Eltern-Kinder-Beziehungen.10 Frauen als Schwestern innerhalb von Geschwisterbeziehungen treten in der vorliegenden Studie in einer ungewöhnlichen Weise hervor. Sie sprechen als Beraterinnen ihrer jüngeren Brüder, als Vorbilder ihrer kleinen Schwestern, als Anwältinnen ihrer Mutter oder ganz einfach als Berufsfrauen. Gleichzeitig werden ihre verheirateten Brüder nicht in erster Linie als Familienoberhaupt, Ernährer oder Amtsperson sichtbar, sondern in ihrer Herkunftsfamilie, das heisst in den geschwisterlichen Rollen des renitenten Aussenseiters, des überwachenden Ältesten oder des harmonisierenden Jüngsten. Diese ungewöhnlichen Stimmen erhalten durch die Kategorie der Geschwister Raum. Die Frage nach der Funktion von Geschwistern ist bislang historisch wenig untersucht. Das stellte Bärbel Kuhn in ihrer Studie zu unverheirateten Frauen und Männern im ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland fest. «Zwar ist die ledige ‹Tante› ein vertrauter Typus als die Verwandte, die flexibel, weil ungebunden, dort einspringen konnte, wo sie gebraucht wurde: als Ersatzmutter, Erzieherin, Krankenpflegerin, Reisebegleiterin u. v. m. Die dieser Beziehung unter Geschwistern inhärente Bedeutung von Verwandtschaft für ledige Menschen ist selten thematisiert worden. Unverheiratete Geschwister lebten oft zusammen. Ihre Beweggründe, ihr gemeinsames Auftreten nach aussen, Dominanzen und Konflikte verweisen sowohl auf eine Form der Bewältigung des Ledigseins als auch auf die Relevanz verwandtschaftlicher Beziehungen.»11

       UNVERHEIRATETE FRAUEN ...

      Die spezielle Position lediger Frauen machte sich im 19. Jahrhundert vor allem durch den bürgerlichen Diskurs ihrer Zeit bemerkbar, der die Kernfamilie als Heiligtum ernannte.

      «Kein anderer Zivilstand, [...], hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen ähnlichen Deutungswandel erfahren, wie der lediger Frauen.»12 Während noch in Goethes «Faust» Gretchen den Titel Fräulein nicht für sich beanspruchen wollte, da dieser Titel für Adlige vorbehalten war, mussten später ledige Frauen ausdrücklich den Titel Fräulein tragen. Heute sollte niemand mehr so heissen. «Die mit der Industrialisierung einhergehende Veränderung von Moralvorstellungen, sozialen Praxen und persönlichen Lebensentwürfen ist dabei mit grossem diskursivem und emotionalem Aufwand betrieben, beständig neu ausgehandelt und rechtlich umgeschrieben worden. Fräuleingeschichte, so zeigt sich, ist Gesellschaftsgeschichte im klassischen Sinn.»13

      Die acht alleinstehenden, kinderlosen Frauen öffnen einen Blick auf bisher wenig beachtete Frauenräume.14 Wer waren die selbstlosen «Fräuleins»,15 wo wohnten sie, welche Beziehungen lebten sie? Sichtbar werden hier nicht engagierte Frauenrechtlerinnen und Ehefrauen, die innerhalb der Bürgertumsforschung einen wichtigen Platz einnahmen seit der «Entdeckung» der «femme couverte»,16 auch nicht Arbeiterinnen oder Frauen, die durch Armut im Gesetz oder in Wohlfahrtsorganisationen auftauchten, sondern die in der blinden Mitte liegenden Frauen des Bürgertums, die den Makel an sich hatten, keine Heirat einzugehen. Sie wahrten Prinzipien des Bürgertums und tradierten diese in ihren Rollen als Erzieherinnen. Gleichzeitig lebten sie ihren Schülerinnen und ihrer Umwelt alternative Lebensmodelle jenseits der Rolle der Hausfrau und Mutter vor. Ziel des Projektes «Geschwistergeschichten» ist es, mit einem neuen Blick auf horizontale Familienverknüpfungen17 die Rolle der ledig gebliebenen Schwestern innerhalb der Familie und im öffentlichen Raum festzumachen.

      Die so genannte Ledigenfrage beschäftigte das Bürgertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch wenn statistisch nicht belegt werden konnte, dass immer mehr Frauen und Männer unverheiratet blieben, so wurden Ledige doch vermehrt in ihrem Verhalten genau beobachtet.18 «Schon kurz nachdem sich das bürgerliche Familienideal mit seiner Trennung von Privat- und Erwerbsleben, der Zuschreibung von männlichen und weiblichen Geschlechtscharakteren und den entsprechenden Funktionen in Familie und Gesellschaft zu einer wichtigen gesellschafts- und staatsstabilisierenden Ideologie entwickelt hatte»,19 sah das aufstrebende Bürgertum die Familie als Kern schon wieder bedroht.20 Alleinstehende und berufstätige Frauen bildeten eine der beunruhigenden Komponenten. Die Kranken- und Altersversicherung, Freizeitgestaltung für alleinstehende Frauen, Wohnungsbau für Einzelpersonen oder Vereinsamung von alten Menschen sind Themen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr und mehr zu sozialpolitischen Problemen wurden. Wie reagierte ein Geschwisternetzwerk auf diese moderne Welt? Kann die Aussage, wie sie von Jürgen Schlumbohm und von David Sabean für ländliche Gegenden in Deutschland gemacht wird, auch auf die Schweiz übertragen werden: dass nicht eine lineare Entwicklung von grossen Hausgemeinschaften zu kleinen Kernfamilien ausgemacht werden kann, sondern vielmehr verwandtschaftliche Beziehungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts stärker aktiviert wurden, um die Probleme der Modernisierung zu bewältigen?21

      Die vorliegende Fallstudie der zwölf Geschwister gibt Einblick in ein eng geknüpftes, bürgerliches Familiennetzwerk in der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wenn bisher vom Bürgertum die Rede war, so muss betont werden, dass dieses keine einheitliche Gruppe bildet. Je nach historischer Konstellation gehören wechselnde Teile der Bevölkerung zum Bürgertum.22 Auch erhält der Begriff unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem, ob er rechtlich, normativ oder aufklärerisch verwendet wird. So kommt selbst die radikale Errungenschaft der Gleichheit aller Bürger, wie sie in der schweizerischen Verfassung von 1848 durchgesetzt wurde, einer Fiktion gleich: Sie bedeutete gleichzeitig den Ausschluss von Frauen und Niedergelassenen und kam so einer Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Unterschieden gleich. Aber selbst innerhalb der Schicht der Männer, die Bürger waren, gab es Unterschiede in der Zugehörigkeit. Namen,


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