Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


Скачать книгу

      Ein ähnliches Setting zeigt sich innerhalb der Quellen der zwölf Geschwister, die zwei Generationen abdecken. Der Einbezug von Briefen der Mutter, von Onkeln und Tanten macht Traditionen und Brüche sichtbar und lässt vieles innerhalb dieses einen Systems verständlicher werden. Die im Schlusskapitel dargestellten Familienerzählungen, die mir, der Grossnichte und Enkelin, von meinem Vater, von Onkeln und Tanten erzählt wurden, lassen zwei weitere Generationen zur Sprache kommen. Dieses Patchwork unterschiedlicher Stimmen einer Familie kann als Spiegel von grösseren kulturellen und sozialen Entwicklungen und Mustern innerhalb der Dynamik historischer Prozesse gesehen werden.46

      Auch wenn meiner Arbeit keine soziologische Fragestellung zugrunde liegt, scheint mir besonders ein Aspekt des Ansatzes von Delcroix und Bertaux interessant: Familie wird von ihnen als «Produktionseinheit» definiert.47 Dies nicht in einem traditionellen Sinn, sondern als Gruppe, die nebst gemeinsamen materiellen Werten auch Schicksal, Ideale und Glaube produziert. Innerhalb dieser familiären Produktionseinheit ist eines der zentralen Elemente die Funktion von Geschenken. Jede Art von Geschenken hat eine wichtige Funktion. Als Erstes jedoch das Geschenk des Lebens. Dieses Geschenk von den Eltern an das Kind kann per definitionem nicht an die Gebenden zurückerstattet werden. Das «Geschenk des Lebens» kann nur durch die Geburt einem nächsten Kind gegeben werden: Eine Tochter oder ein Sohn kann durch das neue Leben, das die Familie weiterführt, Leben im übertragenen Sinn an die Grosseltern zurückgeben. Enkel fungieren nach den französischen Soziologen als Vermittler.48 Was mich an diesem Ansatz zu interessieren begann, und durch die Arbeit hindurch begleitete, war die Frage: Was geschieht, wenn alle weiblichen Geschwister einer Generation dieses «Geschenk» nicht an die Eltern zurückgeben? Welche Auswirkungen hat dies auf die Netzwerke, wie sie in den Erzählungen repräsentiert werden?

      ALLTAGSGESCHICHTE

      In den 1970er-Jahren übten Vertreter der Mikro-Historie, der Alltagsgeschichte49 und der historischen Anthropologie50 Kritik an einer Geschichte der grossen Strukturen aus. Alltagsgeschichte versteht sich als eine problemorientierte Detailanalyse des Ganzen; ihr dezidiert mikroskopischer Blick untersucht konkrete Lebensbedingungen und Lebensweisen und fragt nach Aneignungsprozessen.51 Die «Materialität» der Menschen, einer uns fremden Zeit und Kultur, soll mitgedacht werden: Sie rochen, fühlten, hörten anders als wir. Alltagsgeschichte fragt danach, wie sich Individuen Welt aneignen. Gleichzeitig macht sie sichtbar, dass diese Aneignungsstrategien die Umgebung prägten. Alltagsgeschichte versteht Menschen als handelnde Subjekte – nicht als Objekte übergeordneter Strukturprozesse: «Im Zentrum steht, wie Menschen in ihrer sozialen und kulturellen Praxis gleichermassen Objekt und Subjekt von Welt und Geschichte sind, oder: wie sie ihre Wirklichkeit erfahren und immer auch produzieren.»52 Diese handelnden Subjekte werden innerhalb der Alltagsgeschichte auch historische Akteure genannt.53 Der Begriff des historischen Akteurs ist der Versuch, dem Dilemma der Subjekt-Objekt-Dichotomie zu entfliehen. Die Akteure sind nicht Marionetten politischer Geschehnisse und nicht staatsregelnde Individuen, die Welt schaffen. «Sie erkunden und nutzen Handlungschancen und Spielräume, schaffen sie aber auch selbst.»54 Die persönliche Aneignung und Interpretation von sinngebenden Institutionen, Werten und Normen lässt neue Nuancen in den Realitäten der Lebenswelten entstehen. Das Sprechen und Handeln jedes Einzelnen ist von anderen Personen beeinflusst, gleichzeitig bewegt und verändert dieses die Handlungsmöglichkeiten der anderen. Es ist eine komplexe Bewegung, die in keiner Weise dualistisch begriffen werden kann.55 Der Begriff des historischen Akteurs, der an die Welt des Theaters erinnert, spiegelt zudem die Konstruktion einer Bühne, auf der sich Figuren bewegen, die wir aus der Distanz betrachten.

      Der Sozialhistoriker David Sabean, der über 20 Jahre im süddeutschen Neckarhausen geforscht hat, betont, wenn unsere Arbeit sich darauf konzentriert, wie Bewusstsein in sozialem Austausch geprägt wird, dann sind wir auf einzelne, konkrete Kontexte angewiesen.56 Wie Sabean heben auch Leonore Davidoff und Catherine Hall die Wichtigkeit von lokal gebundenen, spezifischen Studien hervor: «The focus of study then becomes activities, structures, processes and logics that simply are not visible outside the local context.»57 Ihre 1987 erschienene und 2002 sorgfältig überarbeitete Studie «Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class 1780–1850» zeigt, wie ein alltagsgeschichtlicher Ansatz neue Einblicke in strukturelle historische Daten geben kann.58

       FORSCHUNGSGESCHICHTEN UND DER BLICK DER HISTORIKERIN

      Eine historische Analyse steht auf einem wankenden Gelände: Der Blickpunkt der Analyse sind Menschen in einem bestimmten Zeitraum und einer bestimmten Situation. Diese eignen sich Zeichen und Codes, materielle Möglichkeiten und soziale Beziehungen an. Sie interpretieren die Welt je unterschiedlich und verändern sie durch ihr eigenes Verständnis. Sobald wir rückblickend über diese Menschen etwas sagen, geraten wir als interpretierende Historikerinnen und Historiker in ihr System von Zeichen und Interpretationen, wir werden von der Umlaufbahn ihres Weltverständnisses angezogen. Wir können uns nicht ausserhalb dieser Diskurse und Zeichensysteme bewegen, sondern befinden uns immer schon im Kontext.59 Zudem schiebt sich die Sprache, unser Erkenntnisinstrument, zwischen uns und die Wirklichkeit, die wir im Gegenstand unserer Forschung zu erkennen hoffen. «Damit verwehrt die Sprache selbst den Zugang zur ‹Wirklichkeit›, sie reguliert diese und lässt sich aus dieser Position nicht mehr verdrängen.»60

      Eine Möglichkeit, mich diesem Dilemma zu stellen, ist, dass ich mich innerhalb meiner Arbeit als einen Teil der historischen Analyse positioniere. Wie ich bereits in der Einleitung geschrieben habe, erzählt die vorliegende Forschungsarbeit einen Teil meiner eigenen Familiengeschichte. Mein Grossvater war das jüngste der zwölf Pfarrerskinder, deren Quellen hier betrachtet werden sollen. Meine so offensichtliche Verwandtschaft mit den hier untersuchten Menschen hat mich gezwungen, die Beziehung zwischen mir als Forscherin und meiner Arbeit zu reflektieren. Die Chance eines solchen Projekts liegt darin, dass sich die eigene Geschichte und daher das eigene Selbst gleichzeitig mit dem eigenen Wissen über die Vergangenheit ändern.61 Das vorliegende Forschungsprojekt gibt nicht nur den Blick auf die Quellen der Geschwister frei, sondern macht gleichzeitig meinen Blick sichtbar. Dies mit dem Ziel, die dialogische Situation zwischen Text und Fragestellung, Lesen und Schreiben in der Produktion der Arbeit sichtbar zu machen.

      Innerhalb der feministischen Wissenschaftstheorie im Allgemeinen und in den Geschichtswissenschaften im Besonderen wurde im Lauf der 1980er- und 1990er-Jahre eine intensive Debatte um Erfahrung und Reflexion geführt.62 Leora Auslander schrieb über Erfahrungen und Erleben und deren Auswirkung auf die akademische Produktion von Geschichte im Zusammenhang mit ihrer eigenen Biografie und Familiengeschichte.63 In «Autobiography of a Generation», einem der wohl gelungensten Beispiele seiner Art, folgt Luisa Passerini den Erinnerungen von AktivistInnen der italienischen Studentenbewegung und schliesst die eigene Geschichte mit ein. Passerini ergänzt ihr Quellenmaterial, Interviews und Lebensgeschichten, mit ihrem Tagebuch aus den 1968er-Jahren. Die abwechselnden Kapitel – mal die Erinnerungen und Geschichten der interviewten Personen und Memoirenschreiber, mal die Texte der Forscherin selbst, geben einen einzigartigen Einblick in die Auswirkung und Dynamik, die zwischen unserer eigenen Lebensgeschichte und dem Forschungsgegenstand stattfindet.

      POLITICS OF LOCATION

      Das Anliegen feministischer Wissenschaftstheorie, wissenschaftliche Objektivität in ihrer universalistischen Form zu hinterfragen, muss im Zusammenhang mit Widerstandsbewegungen der 1970er-Jahre verstanden werden. Die Kritik an der Hegemonie der Wissenschaften und der konservativen Politik der Institution der Universitäten, deren wohl berühmtester Vertreter Michel Foucault war, bot für die zweite feministische Welle Möglichkeiten, neue Perspektiven innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses einzubringen und dabei auch gehört zu werden.64

      «Politics of Location» ist einer der prägenden Begriffe, der aus dieser Debatte hervorging. Adrienne Rich betonte in «Notes Toward a Politics of Location», wenn der Feminismus des späten 20. Jahrhunderts irgendeine neue Erkenntnis brachte, so war es die, dass Begriffe wie «immer» oder «alle» dasjenige unsichtbar machen, was von Bedeutung ist: Wann, wo und unter welchen Umständen ist eine Aussage wahr?65


Скачать книгу