Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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1934, nach dem Tod der Mutter Caroline Schnyder-Wyttenbach, schlugen der jüngste Bruder und eine seiner Schwestern ihren acht noch lebenden Geschwistern einen Rundbrief vor. In monatlichem Turnus sollten von nun an alle Geschwister an je eines schreiben. Die Organisation und Durchführung dieses Rundbriefes wurde vom Jüngsten übernommen und überwacht. Zufrieden blickte er nach den ersten zehn Monaten auf die neue, familienverbindende Institution zurück:

      «Trotz der ungewöhnlichen Umstände haben sich die lieben Briefe fast alle zeitig eingestellt, die 2 fehlenden werden wohl morgen kommen. Ich bin wirklich erfreut, dass das von Rösy und mir auf der Vogesenwanderung im April ausgeheckte Rundbriefsystem sich nach aller Meinung so gut bewährt hat. Wir sind nun einmal rundum [...]. Wir wollen auch der Klarheit halber die Altersreihenfolge beibehalten, ausser wenn Geburtstage in die Quere kommen. Denn Geburtstagbriefe sind doch oft persönlicher u. sollen durch solchen Nachrichtendienst nicht beeinträchtigt werden. Da Ernst im Februar Geburtstag hat, nehmen wir also auf 1. Februar nicht ihn, sondern Hedy, auf 1. März Hans, auf 1. April Ernst, auf 1. Mai Hanny u. dann wieder normal. Ich will das schon immer wieder auf den 1. anordnen. Also auf 1. Februar schreiben wir alle an Hedy, merkt es Euch, bitte.»76

      Die beim Adressaten angekommenen und gesammelten Briefe wurden nach einem bestimmten Modus weitergeschickt, damit die Informationen jedes einzelnen Schreibers auch alle Geschwister erreichten. Briefe waren im Allgemeinen eine öffentliche Familienangelegenheit und hatten nicht den vertraulichen Charakter, der ihnen heute zukommt.77

      Die unterschiedlichen Personen und Orte, wohin die Briefe geschickt wurden, machen sichtbar, dass die Briefe an manchen Orten von mehreren Personen gelesen wurden:

      «Dieser Brief zirkuliert also: 1. Juni, Hans, Trudy 3. Ernst 5. Hedy 7. Hanny 8. Horgen 11. Karl Paula 14. Walter. Die Daten bezeichnen den Empfangstag. Auf 1. Juli schreiben wir alle an Hedy, bitte merkt es Euch.»78

      Die Einhaltung des zeitlichen Turnus («merkt es Euch») war bei einer solch grossen Briefrunde wichtig. Auch wenn Walter die Briefe als «Nachrichtendienst» bezeichnete, hatten diese, wie die aufwändige Organisation ahnen lässt, eine weit grössere Bedeutung. Die Schreibenden konnten sich in den Briefen schriftlich selbst darstellen, ob sie fern voneinander wohnten oder nicht, und so an einer gemeinsamen geschwisterlichen Identität bauen.79 Die Briefe dienten den Schreibenden und Empfangenden sowohl zum Zweck der Familienpflege als auch als Informations- und Kommunikationsmittel. Bei der Interpretation ist also nicht nur der Kontext wichtig, in welchem ein Brief geschrieben wurde, sondern auch die Tatsache, dass der Brief ein Mittel war, sich selbst in einem bestimmten Umfeld zu definieren. Mit der dichten Korrespondenz wurde die Familienidentität stabilisiert, partnerschaftliche Identitäten aufgebaut oder auch eigene, literarische Formen eines brieflichen Ichs geschöpft.80

      Als historische Quellen, gesammelt und aufbewahrt, sei es als Korrespondenz oder als eine Sammlung eines Briefschreibers, entfalten die Briefe ein Eigenleben. Liest man sie hintereinander, erhalten sie einen anderen Rhythmus als zu der Zeit, da die Empfänger sie sehnlich erwarteten. Dadurch verselbständigen sich die Briefe unabhängig von ihren Autoren und Autorinnen, werden zu Texten, die selbst Geschichte machen und eine Geschichte haben.81 Die schillernde Grenze zwischen Authentizität und Fiktionalität in Briefen wie auch die Eigenart von Briefsammlungen, eine von ihrer historischen Zeit unabhängige Eigendynamik zu entwickeln, müssen mitgedacht und reflektiert werden.82

      EGO-DOKUMENTE: WEIBLICHE TAGEBÜCHER – MÄNNLICHE MEMOIREN?

      Nebst der Fülle von Briefen liegen Quellen vor, die allgemein als Ego-Dokumente bezeichnet werden können. Unter Ego-Dokumenten versteht die neuere, vorwiegend westeuropäische Forschung «solche Quellen, die Auskunft über die Selbstsicht eines Menschen geben».83 Texte also, in denen sich ein Ich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt, in denen sichtbar wird, was die schreibende Person beschäftigte, erregte oder betroffen machte.84 Briefe können ebenso zu Ego-Dokumenten gezählt werden wie Autobiografien. Ich vereine hier die beiden Gattungen Memoiren und Tagebuch unter diesem Begriff, da sie beide eine absichtliche Darstellung des Ichs in unterschiedlichen Formen zum Ziel haben. Während ich die Memoiren zu den Texten zähle, in denen sich die Autoren mit einer bestimmten Absicht für ein bestimmtes Publikum in einer einheitlichen Erzählung darstellten, rechne ich die Tagebücher zu den Texten, in welchen sich das Ich in fragmentarischen Momentaufnahmen an sich selbst wendete. Memoiren haben, im Hinblick auf ein zukünftiges Publikum und als rückblickende Erzählform, die Tendenz, eine Lebensgeschichte in einem Strang zu erzählen. Tagebücher hingegen werden in stillen Momenten geschrieben, in welchen sich das schreibende Ich über sein Tagewerk, bestimmte Erlebnisse und Gedanken beugt und seine Beziehung zur Welt, und im pietistischen Tagebuch im Speziellen zu Gott, reflektiert. Tagebücher wurden zwar als ganz persönliche Dokumente geschrieben, deren Einsicht, wenn überhaupt, nur intimen und vertrauten Personen erlaubt wurde. So sind Tagebücher zunächst intime Partner, in welchen offen gesprochen werden soll, wo das Selbst kritisch befragt und «ins Gebet genommen» wird. Es handelt sich also um eine Art Beichte. Diese unterliegt allerdings einer Zensur – dem Wissen um die Möglichkeit eines plötzlichen Gelesenwerdens. Diese Möglichkeit der Aufdeckung der innersten Gedanken und der privatesten Handlungen macht vieles selbst im Tagebuch kaum benennbar.

      Tagebücher

      Die Tagebücher, die mir zur Verfügung stehen, stammen von drei der acht Schwestern. Sie unterscheiden sich in ihrer Art, da ihre Verfasserinnen sie in gänzlich verschiedenen Lebensphasen schrieben. So gleicht das Tagebuch der jungen Haushaltlehrerin Martha, das sie als Gouvernante in London und während ihrer ersten Stelle als Kochlehrerin und Hausvorsteherin eines Kurhauses schrieb, einer Aufzählung von Tätigkeiten. Es spiegelt eine junge Frau, die sich über ihr Schreiben in ihrer Welt zurechtzufinden versucht. Das daran anschliessende Tagebuch hatte Martha im Nachhinein überarbeitet. Der Text, eine eigentliche Liebesgeschichte, erzählt von der Freundschaft zwischen einem deutschen internierten Offizier und Martha 1919. Im Schreiben versuchte Martha, die Bedeutung ihrer Begegnung mit dem Mann, den sie liebte, aber nicht heiraten konnte, zu ergründen und die schmerzhafte Erfahrung zu verarbeiten.

      Das Tagebuch der krebskranken Primarschullehrerin Paula, das diese in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren während Klinikaufenthalten schrieb, lässt die kranke Person sichtbar werden, die von ihrer Arbeit und ihrem sozialen Umfeld getrennt wird. Sie spricht ganz andere Themen an. Auch hat sich die Zeit geändert, was sich in ihrer Schrift, in der Sprache und in den gewählten Themen niederschlägt.

      Fragmente des Tagebuches der Lehrerin und späteren Sekretärin Sophie zeigen eine besondere Form der Selbstreflexion: Durchsetzt mit Gedichten, sind die Tage zusammengefasst als kurze Berichterstattungen von kulturellen Programmbewältigungen, Auflistungen von Büchern, die gelesen, Gedichten, die auswendig gelernt, oder Konzerten, die besucht wurden. Diese protokollähnlichen Dokumente lassen die Freizeitgestaltung und die Disziplinierung durch Kultur sichtbar werden und machen diese besondere Form eines Tagebuchs zum Beweisstück erbrachter Leistungen.

      Leider stehen mir nur von den Schwestern Tagebücher zur Verfügung. Soweit dies bekannt ist, schrieben die Brüder kein Tagebuch. Wie stark Vorstellungen einer weiblichen introvertierten Stimme für das Schreiben der Schwestern prägend waren, kann hier nur in Erwägung gezogen werden. Es ist möglich, dass die Tradition des Tagebuchschreibens als ein expliziter weiblicher Handlungsspielraum, in dem die innersten Gedanken einem stummen und geduldigen leeren Buch anvertraut werden dürfen, der Vorstellung des Schreibens von Männern widersprach.85 Selbsterfahrung, Selbstfindung, Sinnstiftung und Erbauung in geschriebener Reflexion stellten im 19. Jahrhundert und bei den in dieser Tradition stehenden schreibenden Schichten im beginnenden 20. Jahrhundert spezifische Orte weiblicher Handlungsspielräume dar.86 Im reflektierten Schreibstil, der das Ich in seinen Gefühlen befragt und in ein Verhältnis zu seiner Umwelt setzt, werden Brüche zwischen dem allgemeingültigen Konzept einer natürlichen Weiblichkeit und dem realen Leben benennbar.87

      Memoiren

      Die vorliegenden Memoiren stammen aus der Feder der Brüder. So die vielfältigen Lebensdarstellungen des Ältesten, Ernst Schnyder,88 und die Erinnerungen des jungen Assistenzarztes Karl Schnyder an seine Studienzeit.89 Diese autobiografischen


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