Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder
Die Quellenlage erlaubt es mir ausserdem, sichtbar zu machen, wer welche Dokumente aufbewahrte und welche Stimmen heute fehlen. Ein grosser Teil der Briefe findet sich im Stadtarchiv von Schaffhausen. Sie wurden im Sommer 2001 von der jüngsten Tochter des ältesten Bruders unter Verschluss abgegeben. Seit ihrer Pensionierung hatte sie sich ausschliesslich dem Sammeln und Ordnen des schriftlichen Erbes ihres Vaters gewidmet. Die Quellen wurden unter dem Namen des ältesten Bruders im Archiv abgelegt. Weitere Briefe, Tagebücher und Gedichte kommen mir von einer ledig gebliebenen Nichte der zwölf Geschwister zu. Sie hat die kostbaren Ego-Dokumente ihrer Tanten aufbewahrt und mir zur Verfügung gestellt.30
METHODE
Ich möchte im Folgenden die methodischen Grundlagen vorstellen, denen ich mich in meiner Arbeit verschrieben habe. Ich stelle mich dabei in vier verschiedene wissenschaftstheoretische Kontexte, die ich grob mit 1. Geschlechtergeschichte, 2. Alltagsgeschichte, 3. Politics of Location und 4. Geschichte als Kunst der Textinterpretation überschrieben habe. Mein eigenes Verständnis dieser vier Bereiche, das ich im Folgenden erläutern werde, ergibt die Methode, die mich durch diese Arbeit leitet.
GESCHLECHTERGESCHICHTE: LEDIGE FRAUEN – VERHEIRATETE MÄNNER
Geschlechtergeschichte zeichnet sich nicht durch eine einzelne Methode aus, sondern durch eine bestimmte Perspektive: dass das Geschlecht einer Person, ebenso wie die Klasse oder die Ethnie, zu der sie zählt, Lebensbedingungen und Handlungsspielräume prägt, politische und wirtschaftliche Wirkungsmacht entfaltet. Geschlecht stellt somit in jedem untersuchten Gegenstand der Sozialwissenschaften eine massgebende Kategorie dar.
«Versteht man Geschlecht als soziale und komplexe Beziehung, so heisst das, dass die Suche nach Frauen in der Geschichte nicht einfach die Suche nach einem bisher vernachlässigten Gegenstand ist, sondern die Frage nach bisher vernachlässigten Beziehungen zwischen Menschen bzw. Menschengruppen.»31 Gisela Bock fasste zusammen, was die feministische Geschichtswissenschaft in den 1980er-Jahren bewegte. Es ging nicht mehr um eine Anhäufung berühmter Frauen, auch nicht mehr um die Betrachtung der «Frau im Bürgertum» oder der «Frau der Arbeiterklasse». Das Ziel war es nun, Geschlecht als eine komplexe Kategorie darzustellen, die soziale und politische Diskurse hervorbringt und durch diese selbst wieder beeinflusst wird. Joan Wallace Scotts Aufsatz «Gender: A Useful Category of Historical Analysis» hat das Verständnis von Geschlechtergeschichte auch im europäischen Raum durch den Begriff «gender» nachhaltig geprägt.32 Geschlecht als eine ebenso konstruierte wie allgemein prägende Kategorie wie Klasse und Rasse zu verstehen, bedeutete, dass die unterschiedlichen Kategorien nicht mehr als jeweils unterschiedliche ideologische Richtungen des Feminismus verstanden werden konnten (Marxismus, Black-Feminist-Movement), sondern in komplexer Wechselwirkung entlang der verschiedenen Achsen der Macht betrachtet werden mussten. In der aktuellen Geschlechterforschung, insbesondere den «postcolonial studies», hat sich das Konzept der «Intersectionality», diesen mehrfach verschränkten, komplexen Beziehungen zwischen sozialen Determinanten wie Geschlecht, Klasse, Rasse, Religion oder Ethnie zugewandt.33
Judith Butler betont, dass universelle Aussagen nicht mehr objektiv wahr sein können, wenn Klasse, Rasse, Ethnie und Geschlecht mit in Betracht gezogen werden.34 Geschlechtergeschichte vertritt ein Wissenschaftsverständnis, das universalistischen Ansätzen kritisch gegenübersteht.
Sowohl Butler als auch Scott sind amerikanische Wissenschaftlerinnen, die in ihrer eigenen Forschungstradition stehen. Ob wir in der Debatte um feministische Theorie und Genderstudies vor allem amerikanische Gender-Konzepte verwenden, ob wir französische Theorien anwenden oder uns in eine deutsche Forschungstradition stellen, ist von Bedeutung. Die Philosophin Rosi Braidotti schlägt vor, so viele unterschiedliche Ansätze wie möglich zu reflektieren: «This is no mere cultural pluralism but rather the awareness of the equal relevance of theoretical traditions that may appear very far from each other. To remain within Western Europe, for instance: whereas ‹sexual difference› theories are mostly French-oriented, ‹gender› theories are closer to English-speaking feminism.»35 Kulturelle Differenzen innerhalb der feministischen Theorie können und müssen fruchtbar gemacht werden.
In meiner Arbeit versuche ich den Begriff «gender» wo möglich zu vermeiden. Dies liegt nicht nur an seiner zurzeit bis zur Unkenntlichkeit strapazierten Verwendung, sondern auch an der Schwierigkeit einer Übersetzung des Begriffs in die deutsche Sprache.36 Der englische Begriff «gender», der das grammatische Geschlecht bezeichnet und damit innerhalb des Englischen immer schon die Konstruiertheit von Geschlecht durch Sprache bedeutet, ist im Deutschen (wie auch in den romanischen Sprachen) nicht adäquat vorhanden. Deshalb wird der englische Terminus oft bevorzugt.37
Ich habe mich für den Gebrauch des Begriffs «Geschlecht» entschieden, da ich der sprachlichen Unschärfe des kaum übersetzbaren «gender» in unserem Sprachraum misstraue.38
Geschlechtergeschichte fordert dazu auf, das Geschlecht von Frauen und Männern in ihrem jeweiligen Umfeld mitzudenken. «Als ‹Geschlechterfrage› oder überhaupt als ‹Frage› hat man meist nur das weibliche Geschlecht, bzw. die ‹Frauenfrage› bestimmt. Männer schienen ausserhalb des Geschlechterverhältnisses zu stehen im gleichen Mass, wie sie es dominierten. Es erscheint als selbstverständliches Erfordernis, Frauengeschichte immer (auch) auf die Geschichte von Männern zu beziehen, aber bisher noch kaum, Männergeschichte auf die Geschichte von Frauen zu beziehen.»39
In den letzten Jahren hat die Geschlechtergeschichte gerade in der Diskussion um Methoden die Rolle von Metanarrationen und die epistemologischen Grundlagen einer neuen Historiografie eine zentrale Rolle gespielt.40 Geschlechtergeschichte mit ihrem pluralistischen Verständnis von Geschichte stellt eine historiografische Herausforderung dar, die neue Ansätze nicht nur ergänzend zur allgemeinen Geschichte versteht, sondern die Einbindung der Pluralität der Ansätze als Programm fordert.41 Karin Hausen verlangte in diesem Zusammenhang, «endlich die Nicht-Einheit als Programm genauer zu reflektieren, offensiv zu bearbeiten».42
ALLTAGSGESCHICHTEN UND FALLSTUDIEN VON FAMILIEN
Sowohl Alltagsgeschichte als auch Fallstudien sind Formen der Mikrogeschichte. Den oft mit der Alltagsgeschichte in Verbindung gebrachten Begriff der Mikrogeschichte hat Jacques Revel erhellend beschrieben. Die Mikrogeschichte lässt, durch einen mit dem optischen Trick der Vergrösserung zu vergleichenden Perspektivenwechsel, durch die Technik des Zooms, etwas ganz Kleines, eine Person, eine Situation, einen Moment, ganz gross erscheinen und macht dadurch neue Einsichten möglich.43 Ich werde im Folgenden zeigen, wie ich methodische Ansätze, die von Fallstudien ausgehen, und Überlegungen der Alltagsgeschichte für meine Studie fruchtbar mache.
FALLSTUDIEN
Die zwölf Geschwister stammen aus einer reformierten Pfarrfamilie, ihre Erziehung ist geprägt durch die Wertesysteme eines reformierten, gläubigen bildungsbürgerlichen Haushalts. Die biografische Studie der zwölf Lebensläufe, die für sich selbst genommen ohne jede historische Relevanz sind, kann gerade wegen ihres Durchschnittscharakters die Charakteristika einer ganzen sozialen Schicht einer bestimmten historischen Periode wie in einem Mikrokosmos darstellen.44 Die vorliegende Fallstudie betrachtet die Lebenswege eines Geschwisterkollektivs. Eine interessante Methode für Fallstudien wurde von Catherine Delcroix und Daniel Bertaux anhand von Familiensystemen entwickelt. Die mit oral history arbeitenden Soziologen begannen jeweils ein Setting von Lebensgeschichten aufzunehmen: Immer drei Generationen einer Familie wurden nach ihren Lebensgeschichten befragt. Damit erweiterte sich das Informationsmaterial von Lebensgeschichten nicht nur in der zeitlichen Dimension, sondern auch durch deren Relativität. Die unterschiedlichen Erzähler von verschiedenen Generationen massen den jeweiligen Zeiterscheinungen und Begebenheiten unterschiedliche Bedeutung zu.45 Der Reichtum einer solchen Studie liegt genau in dieser Bezogenheit der einzelnen Familienmitglieder aufeinander und auf das gesamte System. Die Aussagen erhalten kontextuelle Tiefe,