Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder
Feld des Symbolischen die Unterschiede zwischen ihnen und den Anderen zu markieren. Dabei aber folgten sie Regeln, die sie zu Handlungen und Gesten zwangen – und zwar unabhängig davon, ob ihnen der Sinn dieser Gesten bewusst war, ob sie die Regeln durchschauten oder gar, ob sie sich diese Regeln selbst auferlegen würden, wenn sie die Wahl gehabt hätten.»23
... VERHEIRATETE MÄNNER
Der Fokus der Arbeit liegt bei den Quellen der acht Schwestern. Die Fülle des Materials zwingt zu einer Einschränkung. Die Dokumente der Brüder werden jedoch immer vergleichend beigezogen und geben Einblicke in Handlungsspielräume verheirateter Männer als Brüder. Studien, die Männer in einer vielschichtigen und sorgfältigen Weise in ihren privaten Räumen sichtbar machen, helfen ein differenziertes Verständnis von historischen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu erhalten und den Mythos der Trennung des Öffentlichen und des Privaten aufzudecken.24
DIE HISTORIKERIN ALS TEIL DER GESCHICHTE
Wenn ich zu Beginn betonte, dass Geschichte immer Geschichten erzählen bedeute, so wollte ich damit einen erkenntnistheoretischen Ansatz in den Vordergrund rücken, der die Perspektive der Historikerin zu einem wissenschaftlichen Projekt werden lässt. Die Beziehung von mir als Forscherin zu meinen Quellen ist immer eine spezielle, persönliche Beziehung, die sich im Lauf der Zeit intensiviert und verändert, Brüche erleidet und Hochzeiten feiert. Aus dieser persönlichen Beziehung entsteht Geschichte. Mein Verhältnis zu den hier untersuchten Quellen der zwölf Geschwister ist tatsächlich persönlich, da ich selbst eine Position innerhalb dieser Familie habe: Der jüngste der vier verheirateten Brüder war mein Grossvater, die acht ledigen Schwestern meine Grosstanten. Persönlich kannte ich nur meinen Grossvater und eine der Grosstanten.
Als Kind hatte ich meine besondere Freude an den Anekdoten über meine Grosstanten (während mich die Geschichten über meine Grossonkel entweder weniger interessierten, oder – wie ich mich zu erinnern glaube – vor allem auch, weil sie weniger erzählt wurden). Ich hörte, wie Paula Fahrrad fahren lernte oder Rosa Bibeln nach Spanien schmuggelte und aus fahrenden Zügen sprang und wie Martha schön singen konnte. Diese «Mythen» über die acht ledigen Schwestern meines Grossvaters haben mich später misstrauisch gemacht und meine Neugierde geweckt: Wer mögen diese Frauen gewesen sein, wenn sie nicht gerade von Zügen sprangen, von Fahrrädern fielen oder sangen? Welche Geschichten erzählt man sich nicht? Welche wurden vergessen?
Um in meiner Arbeit meiner eigenen Befangenheit als Forscherin methodisch Raum zu geben, machte ich mich auf die Suche nach einer Epistemologie, die den Prozess des Forschens sichtbar macht: die Bewegung zwischen mir als Leserin und Autorin und den Texten, auf welche ich mich beziehe.
Die überzeugendsten Vertreterinnen eines solchen Ansatzes fand ich in der feministischen Wissenschaftstheorie. Prominente Vertreterin ist Sandra Harding, die Ende der 1980er-Jahre die Frage einer Methodik der feministischen Wissenschaft ausführlich diskutierte. Sie betonte die Wichtigkeit der sichtbaren forschenden Person im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Objektivität. Erst wenn das subjektive Element jeder Forschung – nämlich die forschende Person selbst – sichtbar gemacht wird, kann eine gewisse Objektivität in einer Studie behauptet werden.25 Verschiedene Historikerinnen wie Luisa Passerini oder Leora Auslander haben sich ähnlichen Ansätzen verschrieben.26 Es ist dieser Anspruch von Objektivität, dem ich mich verpflichte, wenn ich meine Position als Forscherin und Familienmitglied in meiner Spurensuche der Erzählungen eines Geschwisternetzwerks reflektierend mit einbeziehe.
AUFBAU
In einem der Untersuchung vorangestellten Methodenteil stelle ich den wissenschaftlichen Ansatz der Arbeit dar. Das Kapitel «Zeitliche und örtliche Hintergründe und die Familie im Überblick» informiert über die regionalen, historischen und politischen Hintergründe, in welchen die Geschichten der zwölf Geschwister ausgebreitet werden, und positioniert die historischen Materialien. Die biografische Kurzbeschreibung der Geschwister sowie eine Familientafel helfen als Einstieg in das komplexe Familiennetzwerk.27 In den drei darauf folgenden Teilen beleuchte ich die Handlungsspielräume der Geschwister aus unterschiedlichen Perspektiven und entlang verschiedener Erzählstränge.
Der erste Teil «Bauernsohn und höhere Töchter: Wurzeln und Werte der bildungsbürgerlichen pietistischen Pfarrfamilie» fragt nach dem Einfluss der elterlichen Generation auf Erziehung, Ausbildung und Kulturverständnis der Geschwister. Dabei wird sichtbar, wie vielfältig die Beziehungen zwischen Religion, Klasse und Geschlecht innerhalb einer Familie sein können. Ein Exkurs stellt Geburt und Tod als massgebende Kindheitserlebnisse dar, die die Biografien der Geschwister prägten. Ein zweiter Exkurs über Musik und Literatur als bürgerliche Kunst, sich selbst zu erkennen und anerkannt zu werden, widmet sich der Frage nach der Bedeutung von Bildung und Kultur. Den Abschluss dieses ersten Teils bilden zwei kurze Kapitel zur Bedeutung der familiären Gemeinschaft. Aus den Memoiren und Briefen des ältesten Bruders wird die Stimme des Normbewahrenden und Normschaffenden hörbar. Die Gedichte und Briefe der Schwester Sophie zeigen die Zwänge und die Strafen, die bei Normüberschreitungen drohen, und was es bedeutete, nicht mehr zur Gemeinschaft zu gehören.
Der zweite Teil folgt der Frage nach «Beruf, Berufung, Schicksal und Ökonomie». Die Rolle von Schwestern und Brüdern in Beruf und Lebensaufgabe unterscheidet sich je nach Position in der Geschwisterfolge und nach Geschlecht. Die Ausbildung der Brüder darf kosten, der Beruf wird als Standessicherung angesehen, da bleibt für den Beruf der Schwestern nur wenig übrig. Wichtig ist, dass sie sich selbst versorgen können, falls «Plan B» eintritt, das heisst, sie nicht heiraten können. Sieben Fallbeispiele zeigen, wie sich die Schwestern und Brüder innerhalb ihrer beruflichen Aufgabe ergänzten, beeinflussten und unterschieden.
Die Vielzahl der möglichen Lebensformen soll in einem dritten Teil durch Erzählungen von «Alltagsleben und Alltagserleben» ergänzt und vertieft werden.28 Das Zuhause, die Räume, Hausarbeiten, Mahlzeiten und Musik sind ebenso Thema wie Freunde und Freundinnen, Sexualität, Geselligkeit und Feste. Die Liebe zur Heimat im Reisen und Wandern zeigt eine alltagsstrukturierende Beschäftigung als neue Errungenschaft der arbeitenden Menschen. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit Politik im Alltag während der beiden Weltkriege. Rationierung, Mobilmachung und Flüchtlingsfragen zeigen sich anhand familiärer Diskussionen um Krieg und helvetische Positionen.
Mit den Überlegungen in «Tradierte Familiengeschichten und der Blick der Forscherin» schliesst Geschwistergeschichten ab. Hier wird die mündliche Überlieferung der Familiengeschichte in ein Verhältnis zu den geschriebenen Quellen gestellt. Anhand von Interviews mit Nachkommen der hier untersuchten Geschwister versuche ich, den narrativen Mustern auf die Spur zu kommen, die mein Bild der Vorfahren prägten. Dabei wird von Bedeutung sein, wie sich Geschichten wiederholen, welche Geschichten abweichen und wer sie erzählte. Auch meine eigenen Techniken bei der Produktion dieser historischen Narration werden zum Schluss reflektiert und durchleuchtet. Erzähltradition und Erinnerungsmuster der Nachkommen der Geschwister öffnen eine zusätzliche Perspektive auf die Quellen und machen meinen eigenen Blick sichtbar.
QUELLENLAGE
Ausschlaggebend für das Projekt war die einzigartige Quellenlage: In über 300 Briefen, mehreren Tagebüchern und rund 300 Gedichten werden die Stimmen der acht Schwestern laut. Rund 500 Exemplare eines institutionalisierten Familienbriefes, in dem regelmässig eines der Geschwister an die anderen elf schrieb, von dem aber nur die Briefe der Brüder übrig geblieben sind,29 macht die Brüder im (schriftlichen) Gespräch mit ihren Geschwistern sichtbar. Hinzu kommen Tagebücher von zwei Schwestern, Erinnerungsblätter von allen Geschwistern und Memoiren von einem Bruder. Briefe der Mutter, von Tanten und Schwägerinnen, von Freunden und Freundinnen ergänzen die Quellen. Publizierte Artikel und Schriften der Brüder, des Vaters und eines Onkels helfen beim Verständnis religiöser und politischer Debatten. Da die Frauen zum Teil in öffentlichen Anstellungsverhältnissen arbeiteten, finden sich auch Spuren in öffentlichen