Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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über eine kleine Sequenz ihres Lebens – über einen grossen Lebensabschnitt und zeichnen einen fortschreitenden, abgeschlossenen Prozess ihrer Identitätsbildung. Wieweit das Bedürfnis nach einer einheitlichen Historisierung der persönlichen Lebensgeschichte vor allem den männlichen Familienmitgliedern eigen war, kann hier nicht beantwortet werden. Jedoch ist die literarische Form, für die sich die historischen Akteure entschieden, wenn sie über sich schrieben, ebenso aussagekräftig wie der Inhalt des Geschriebenen. Die unterschiedlichen Formen der Ego-Dokumente geben Einblick in das Bedeutungssystem, das den beschriebenen Erlebnissen und Handlungen zugemessen wurde. «Die Bedeutung autobiographischen Erzählens liegt nicht in der Abbildung der Wirklichkeit, in der Rekonstruktion vergangenen Lebens, sondern in der Konstitution von Sinn.»90

      Es geht mir dabei nicht darum, besondere literarische Gattungen dem «Weiblichen» beziehungsweise dem «Männlichen» zuzuweisen, sondern die Spielarten der schriftlichen Inszenierung auch in Bezug auf die Kategorie Geschlecht genau zu beobachten.

      DAS LAIENGEDICHT ALS HISTORISCHE QUELLE

      Laiengedichte wurden oft in intimen Momenten geschrieben, konnten später aber an andere verschenkt werden. Frauen und Männer dichteten für Familienfeste, zur Unterhaltung oder als Geschenke zu Geburtstagen, Hochzeiten oder Weihnachten in der Familiengemeinschaft.91 Im Gegensatz zum Tagebuch fand beim Gedicht bereits in der Anlage eine Verschiebung des intimen Moments hin zum öffentlichen statt. Gedichte wurden in unterschiedlichen Formen weitergegeben. So kann ein und dasselbe Gedicht in handschriftlichen Geschenksammlungen, Schreibmaschinenfassungen und korrigierten Originalversionen gefunden werden. Die Personen, die die Gedichtbändchen und Sammlungen erhielten, bewahrten diese sorgfältig auf. Dichterische Begabungen wurden hoch geschätzt. Der «Dichter» und die beschenkte Person wurden durch ein solches Geschenk besonders ausgezeichnet. Der Austausch von Gedichten kann als Treuezeichen, als Symbol der seelischen Verbindung, verstanden werden.92 Das Papier, auf welches die Gedichte geschrieben, der Anlass, an welchem ein Gedicht vorgetragen wurde, und der Akt des Schenkens der Gedichte sind wichtige Komponenten in der Analyse von Laiengedichten als historischen Quellen.

      Auch die lyrische Versform des Gedichts birgt historisch relevante Informationen. So verwandte die Haushaltslehrerin Martha klassische Metren wie beispielsweise das Distichon.93 Die Verwendung dieser Versform, deren Tradition über die grossen Dichter der Klassik zurück in die Kunst der römischen Metrik verweist, kommt einem Statement gleich. Martha sagte damit, dass sie erstens überhaupt dichten kann, zweitens, dass sie eine gewisse Technik kennt. Das Wissen dieser Technik bewies, dass sie zu einer gewissen Schicht, zu einer gewissen Gruppe innerhalb dieser Schicht gehörte. Wer hatte das Wissen um römische Metrik? Vor allem Männer. Martha zeigte, dass sie sich in den erwarteten Formen auskannte, also nicht nur gemütvoll ihr Inneres zusammenreimte, sondern sich selbstbewusst in eine Tradition stellte.

      Die überlieferten Gedichte stammen von zwei Schwestern, Sophie und Martha. Auch die Brüder dichteten. Vor allem bei Familienanlässen dürften ihre dichterischen Beiträge kaum gefehlt haben. Die beiden Schwestern aber schufen sich auf diesem Feld einen ebenso wichtigen Platz,94 ja, sie verteidigten ihn strategisch so geschickt, dass ihre Dichtung bis heute erhalten blieb.

      Nebst Laudatio oder Festgedichten schien sich die poetische Form vor allem dafür zu eignen, schwierige Themen zur Sprache zu bringen, die in Briefen oder Tagebüchern kaum berührt wurden. Die kleine sprachliche Einheit des Gedichts, das Kondensieren und Verhüllen von Sinn in wenigen kunstreichen Worten, die Verwendung von mehrdeutigen Metaphern erlaubt inhaltliche Freiheiten wie sonst kaum eine schriftliche Form.

      In der Analyse des Inhalts der Gedichte interessiert mich vor allem die Begegnung der «realen» schreibenden Person mit dem lyrischen Ich, das im Gedicht dargestellt wird. Die zwei Subjekte repräsentieren verschiedene Welten – eine reale und eine virtuelle. Wir haben nur Zugang zum lyrischen Ich, zur virtuellen Welt der schreibenden Person.

      Die Autorinnen verstehe ich besonders in den Gedichten als durch Schreiben handelnde Frauen, die persönliche Aporien sichtbar machen und mit der Gestaltung eines lyrischen Ichs ihr eigenes Bild der Welt, die eigene Interpretation ihres Erlebens übernahmen. So dienten mir die Gedichte oft als Wegweiser in verschwiegenen Gebieten, als Tiefengrabungen einzelner Stimmen.

3 1.-August-Feier der Familie Walter Schnyder-Stäheli, 1941.

      3 1.-August-Feier der Familie Walter Schnyder-Stäheli, 1941.

      Der soziale Raum, in dessen Rahmen eine alltagsgeschichtliche Fallstudie stattfindet, muss innerhalb bestimmter nationaler, politischer und regionaler Bühnen verankert werden, damit die Handlungsspielräume und die Aneignungsprozesse der Akteure in ihrer Bedeutung in einem Kontext bestimmt werden können.1

      Die grossen strukturellen Geschehnisse, die die Schweiz zwischen 1910 und 1950 bewegten, sind kaum in einem kurzen Abriss zu fassen. Wenn ich trotzdem mit einer Auswahl von Schlaglichtern die historische Bühne zu beleuchten versuche, so hat dies zwei Gründe: Zum einen bedeutet die Benennung bestimmter Ereignisse immer eine Auswahl aus dem Geschehen der Vergangenheit und gibt damit einer Perspektive besonderes Gewicht. Zum anderen ist mir beim Lesen der Quellen bewusst geworden, in welchem Mass die Briefe, Tagebücher und Gedichte in ihrem Ton in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verhaftet sind. Die Sprache der Geschwister trug mich immerzu in eine unversehrte bürgerliche Welt, die sich an den grossen Idealen des 19. Jahrhunderts orientierte. Dieses Phänomen einer gebrochenen Zeit wurde in den 1930er-Jahren von Ernst Bloch mit dem Konzept der «Ungleichzeitigkeit» umschrieben.2 Bloch prägte damit ein Geschichtsverständnis, welches Ungleichmässigkeiten der Entwicklung in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Sphären berücksichtigt und auf die «regionale Verteilung der Geschichtsmaterie, der Zeitdichte und -beschleunigung des historischen Prozesses an verschiedenen Orten»3 eingeht. Die Ungleichmässigkeiten historischer Entwicklungen, das Nebeneinander unterschiedlicher Epochen zur gleichen Zeit werden in den Geschichten der einzelnen Menschen sichtbar. «Ungleichzeitigkeit würde dann nicht mehr Verspätung und Überbleibsel bedeuten, sondern hinweisen auf die Pluralität und Heterogenität von Mikrohistorien in der Makrohistorie.»4

      Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz als eine Zeit konstanten Fortschritts und Aufschwungs erlebt. «Als Parameter des Fortschritts galten der Grad der industriellen Durchdringung, der Verkehrserschliessung, des Ausbaus von Bildungsangeboten, das Zurückdrängen des Einflusses der Kirche und der Trend zur Stärkung der Zentren zu Lasten der Peripherie.»5 Als eine Periode grosser Transformationen umfasst die Zeit zwischen 1885 und 1914 beinahe alle Bereiche des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens. Der Aufschwung neuer Industrien und eine generelle Tendenz zur Massenproduktion als Zeichen der wirtschaftlichen Prosperität vollzogen sich im Gleichschritt mit einem beschleunigten sozialen Wandel. «Eine vermehrte räumliche Mobilität der Menschen führte zu einem bisher nicht gekannten Urbanisierungsschub. Industriell geprägte Städte und Hauptorte verzeichneten ein überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum.»6 Nicht nur räumlich, sondern auch sozial geriet die bürgerliche Gesellschaft in Bewegung: «Ein Prozess des sozialen Auf- und Abstieges setzt ein. Berufsqualifikationen wie Erwerbs- und Mobilitätschancen werden geschlechtsspezifisch neu verteilt. Neben einer immer noch vorwiegend männlich-ländlich geprägten Industriearbeiterschaft entsteht eine neue städtische Unterschicht mit prekären Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnissen. [...] Auf politischer Ebene versuchen die bürgerlichen Eliten, aus der Schweiz einen zwar kleinen, aber vollwertigen und damit kriegsfähigen Nationalstaat zu machen.»7

      Die vielfältigen Veränderungen führten in ihrer rasanten Entwicklung zu einer gewissen Überforderung und Orientierungslosigkeit, die sich an literarischen Werken dieser Zeit nachvollziehen lassen.8 Die Unübersichtlichkeit der Zeit mag einer der Gründe dafür sein, dass der Beginn des Ersten Weltkriegs


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