Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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in der neutralen Schweiz von vielen begeistert als Beginn einer neuen Zeit und Erlösung aus dem Unbedeutenden empfunden.9 Am 3. August 1914 erteilte die ausserordentliche Bundesversammlung dem Bundesrat weit reichende Vollmachten, dies ebenfalls in einer Haltung von peinlich euphorischem Heroismus.10 Das tödliche Gesicht des Kriegs zeigte sich erst im Verlauf des ersten Kriegswinters und in den folgenden Jahren, welche zu einem Europa in Trümmern führten.

      Die Kluft, die sich zwischen Deutschen und Franzosen während des Kriegs verstärkte, wirkte sich auch in der mehrsprachigen Schweiz spürbar aus. Die in der deutschsprachigen Schweiz vorherrschenden Sympathien für das Kaiserreich und die Sorgen der französischen Schweiz um die Stellung Frankreichs bedeuteten für den noch relativ jungen Bundesstaat eine Zerreissprobe. Die Wahl des geistig ganz auf der Seite Deutschlands stehenden Generals Ulrich Wille verschärfte diese Situation.11

      Mit der Massenmobilisierung der Männer zu Beginn des Ersten Weltkriegs stieg auch in der Schweiz die wirtschaftliche Bedeutung der Frauen. «Sie wussten sich in ihrer angestammten Domäne durch gezieltes Sparen und Einteilen an die veränderte Marktlage anzupassen, die gezeichnet war durch Mangel an grundlegenden Importwaren, angefangen von Lebensmitteln über Textilien bis hin zur Kohle, sowie durch extreme Verteuerung auch der inländischen Agrarerzeugnisse.»12 Die wirtschaftlich prekäre Situation wirkte sich durch den Lohnausfall der Militärdienst leistenden Männer vor allem für städtische Arbeiterfamilien katastrophal aus. Die Soldaten der schweizerischen Milizarmee leisteten 1914 bis 1918 durchschnittlich 500 Diensttage. Es gab aber weder Verdienstausfallentschädigungen noch verbindliche Hilfen für allein gelassene Familien.13 Da der Bund keine Vorkehrungen getroffen hatte, um die sozialen Folgen des Kriegs aufzufangen, übernahmen Frauen der verschiedensten Vereinigungen die fehlenden Infrastrukturaufgaben.14 Das allgemeine Lob für diesen Einsatz bestärkte die Frauen in ihrer öffentlichen Arbeit und ermutigte sie in ihrer Forderung, den Schweizer Männern auch in ihren politischen Rechten gleichgestellt zu werden.

      Durch den anhaltenden Krieg und die gestoppte Einfuhr von Rohstoffen und Nahrungsmitteln erfolgte eine starke Teuerung sowie eine Lebensmittelknappheit, die im Winter 1917/18 zu dramatischen Zuständen führte und vor allem in den Städten die Arbeiterschaft radikalisierte.15 Der vom Oltener Komitee und von den Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik im November 1918 wurde mit massivem Militäreinsatz niedergeschlagen.16 Die meisten Todesopfer forderte in der vom Krieg nur wirtschaftlich betroffenen Schweiz die so genannte Spanische Grippe, die vom Sommer 1918 bis im Winter 1918/19 etwa 20 000 Menschen, die meisten zwischen 20- und 40-jährig, dahingerafft hatte.17

      Nach dem niedergeschlagenen Generalstreik wurden die Forderungen für eine sofortige Neuwahl des Nationalrats auf der Grundlage des Proporzes, für die Einführung des Frauenstimmrechts, einer Alters- und Hinterlassenenfürsorge sowie der 48-Stunden-Woche auf Eis gelegt. 1919 konnte – dank einer Revision des Arbeitsgesetzes – lediglich die Herabsetzung der maximalen Arbeitszeit in Industriebetrieben auf 48 Stunden pro Woche durchgesetzt werden.18

      Der Zusammenbruch des europäischen Machtgefüges und die erschütternden. Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hatten eine grundlegende Desillusionierung zur Folge, von der auch die Schweiz nicht verschont blieb. Damit einher gingen «Nationalismus und Angst vor Fremden, tief greifende soziale Gegensätze, Furcht und Hass des Bürgertums angesichts einer sich radikalisierenden Arbeiterbewegung, dazu ein aggressiver werdender Antisemitismus, der die Juden für sämtliche Übel der Gesellschaft verantwortlich machte».19

      Während die Frauen in Deutschland und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg das Stimmrecht erhielten, wurden sie in der Schweiz nach ihrem Einsatz in der Öffentlichkeit zurück an den Herd geschickt.20 Die verschiedenen Vorstösse zum politischen Stimm- und Wahlrecht der Frauen wurden während über 50 Jahren regelmässig abgelehnt.21 Zwar anerkannte man die Berufstätigkeit unverheirateter Frauen, Ausdruck dafür war die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) 1928.22 Gleichzeitig fand aber ein Rückzug der Frauen der Oberschicht in die private Häuslichkeit statt. Ihr Verhältnis zur Frauenöffentlichkeit blieb in der Regel eher distanziert.23

      Die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre wirkte sich – wenn auch weniger als im Ausland – so doch spürbar aus. Am stärksten machte sich der Verlust von Arbeit und Einkommen der breiten Bevölkerungsschichten bemerkbar: Hohe Arbeitslosigkeit und Lohneinbussen von bis zu 10 Prozent kennzeichneten den Arbeitsmarkt der 1930er-Jahre in der Schweiz.24 Dabei waren bei den Lohnabbau-Plänen vor allem Ledige und Frauen betroffen.25

      Die Frontstellung zwischen Bürgerblock und Sozialdemokratie, die das politische Klima der Schweiz in der Nachkriegszeit prägte, baute sich erst unter dem Eindruck der faschistischen Bedrohung etwas ab. Die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen faschistischen Bewegungen, auch Frontistenbewegung genannt, die einen Anschluss an den deutschen Nationalsozialismus forderten, erfassten Anfang der 1930er-Jahre – dank der Weltwirtschaftskrise – selbst traditionelle Parteien und die Elite des politischen Systems.26 Dies bedeutete für Bürgerliche und Linke der verschiedensten Richtungen eine Bedrohung. Als Abwehr der faschistischen Strömungen und oft in Übereinstimmung mit einem konservativen Kultur- und Gesellschaftsverständnis entstand um 1932 die «Kultur der Geistigen Landesverteidigung».27 Die 1938 entworfene Kulturbotschaft des katholisch-konservativen Bundesrats Philipp Etter vermochte praktisch alle politischen Lager unter der Idee der «Geistigen Landesverteidigung» zu vereinen.28 So unklar der Begriff auch definiert war, so einig war man sich, dass dank dieser Bewegung die Schweiz in ihrer Eigenart erhalten und beschützt werden sollte.29 Ausdruck dieser Bewegung ist die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache. Die Schweizerische Landesausstellung, die ganz im Sinn der «Geistigen Landesverteidigung» stand, fiel mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 zusammen.

      Lange nicht alle der hier erwähnten strukturellen Bewegungen werden in den Quellen direkt genannt. Jedoch waren sie den Geschwistern bekannt, oft wirkten sie sich bis in ihren Alltag aus.

      Die Geschwister lebten in den unterschiedlichsten Gegenden: in der Ostschweiz, in Zürich oder Basel, in Norditalien und England. In der Betrachtung der Lebenswege sind in erster Linie ihre grosse Mobilität und ihre relative örtliche Ungebundenheit auffällig. Die persönlichen Kontakte pflegten bereits die Eltern Herr und Frau Pfarrer Schnyder mit anderen Pfarrfamilien, mit oft entfernt wohnenden Verwandten oder mit im weitesten Sinn in der inneren oder äusseren Mission Tätigen. So schrieb die älteste Tochter Lilly über die Ausflüge, die sie mit ihrem Vater unternahm:

      «Gerne wanderte er auch mit uns in die freundlichen Pfarrhäuser Rotrist, Safenwyl, Uerkheim, und einmal durfte ich ihn nach Reitnau begleiten.»30

      Dies beeinflusste auch das soziale Netzwerk der Geschwister: Sie knüpften weniger Freundschaften innerhalb der Dorfgemeinschaft, sondern vor allem zu anderen Pfarrfamilien.31 Bei einer Neuanstellung des Pfarrers wurde für die ganze Familie ein neues Pfarrhaus zur Heimat. In der tabellarischen Darstellung der Lebenswege wird dies im Umzug der ganzen Familie von Zofingen nach Bischofszell deutlich sichtbar. Grundsteine sozialer Beziehungen waren weltanschauliche Einstellungen, die sich selten innerhalb einer Dorfgemeinschaft fanden. Die Geschwister orientierten sich nicht an einer bestimmten Region, sondern eher ideell. Besonders geschätzt wurden andere, im pietistischen, «positiven» Kreise sich bewegende Familienbande. Tendenziell wird eine städtische Orientierung sichtbar, die für Pfarrfamilien bereits im 19. Jahrhundert typisch war.32 Städte oder Städtchen waren vor allem für die Schwestern attraktive Wohnorte. Alleinstehende Frauen mit höherer Bildung fanden dort eher eine Anstellung.33 Zudem garantierte das städtische Umfeld Mobilität für den wichtigen sozialen Austausch mit Gleichgesinnten, die entfernt wohnen.

      Die unterschiedlichen Wohnorte und die jeweilige Wohndauer zeigen auf der folgenden tabellarischen Übersicht ein geografisches Geschwisternetz, das sich durch die Jahre verschiebt und bewegt. Fehraltorf, wo die junge Familie ihre ersten Jahre bis 1880 erlebte, lasse ich aus, weil der Ort später in den Biografien nicht mehr vorkommt und daher aus dem zeitlichen


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