Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder
Gesellschaft für die Pfarrfamilie eine Sonderstellung im Beziehungsfeld von Gemeinde, Kirche und Staat.»2
Die Modellfunktion des protestantischen Pfarrhauses basiert auf einem biblischchristlichen Familienbild, wie es von Reformatoren wie Heinrich Bullinger verschiedentlich dargestellt wurde.3 Aushängeschilder des protestantisch-pfarrherrlichen Milieus waren in der Schweiz des 19. Jahrhunderts namhafte Personen wie Johann Caspar Lavater, Heinrich Pestalozzi, Johann Jacob Bodmer, Georg Gessner, Meta Heusser oder Jeremias Gotthelf. Das Pfarrhaus schien von einer Aura umgeben, die Genialität und Vorbildhaftigkeit ausstrahlte. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich verselbständigende Narration der bedeutenden Rolle des reformierten Pfarrhauses4 mag mit dem durch die Säkularisierung fast zeitgleich einhergehenden Machtverlust der pfarrherrlichen Obrigkeiten zusammenhängen. Die Aufgaben des Pfarrers, sein Einfluss und seine Position veränderten sich im 19. Jahrhundert mit der Trennung von Staat und Kirche, mit der Abschaffung von Pfrundregelungen und Leichenreden. Die Funktion der Vorbildhaftigkeit des Pfarrers und seiner Familie jedoch bleibt bis ins 20. Jahrhundert bestehen.5
RELIGION, ERZIEHUNG, BILDUNG UND DIE POSITION DES VATERS
VOM HEIMARBEITERSOHN ZUM PFARRER
Johannes Schnyder kam als Johannes Schneider 1845 etwa eine Wegstunde vom Dorf Schwellbrunn entfernt im Toggenburg im Kanton St. Gallen zur Welt. Er profitierte von den Bestrebungen der demokratischen Bewegung Mitte der 60er-Jahre und konnte dank der Unterstützung von Johann Ulrich Zellweger, einem philanthropischen einflussreichen Kaufmann und Banquier,6 den weiten Weg vom Heimarbeitersohn zum Pfarrer machen.7 Die in den 1870er-Jahren vorgenommene Umbenennung seines Familiennamens vom bäurischen Schneider zu dem als edler empfundenen Schnyder8 verweist darauf, dass Johannes selbst seine Geschichte als die eines Aufsteigers empfunden haben mag. Seine Eltern Hans Georg Schneider und Katharina Ramsauer bewohnten ein kleines Gut. Katharina war bereits die zweite Frau von Hans Georg, das erste Kind, ein kleines Mädchen, starb nur einjährig, 1845 brachte Katharina Johannes zur Welt und starb im Wochenbett. Der verwitwete Vater heiratete wieder, zu Johannes gesellten sich 1849 und 1852 noch zwei Halbgeschwister. Das kleine Bauerngut warf nicht genügend Geld ab, Vater und Sohn verdienten mit der bis ins 20. Jahrhundert im Tal weit verbreiteten Heimarbeit am Webstuhl zusätzlich Geld.9 Ernst, der älteste Sohn von Johannes, schilderte die Kindheit seines Vaters in einem Lebensbild, das er für seine Stiefmutter 1916 verfasste: «Daheim zählte der Vater auf des Jungen Hilfe, wenn er aus der Schule heim kam. Im Winter musste er im Webkeller helfen u. das Spulen besorgen, oft bis spät in die Nacht. Im Sommer gab’s Arbeit draussen im Feld und das Hüten der Kühe Frühling und Herbst fiel besonders unserem Johannes zu, das war für den Jungen eine herrliche Zeit. Johannes fiel in der Schule als besonders begabt auf. Der Pfarrer des Ortes wurde auf ihn aufmerksam und fragte ihn, was er einmal werden möchte: ‹Pfarrer›, lautete die rasche Entgegnung.»10
Die Kindheitsbeschreibungen Johannes Schnyders sind in der Familienerzählung bis heute von dieser Mischung aus Naturzustand, genialer Anlage und plötzlicher Eingebung durchmischt. Wie der kleine Johannes so schnell zu seiner Antwort gekommen sei, so schrieb Ernst weiter, habe er selbst nicht gewusst. Der Dorfpfarrer überzeugte den Vater, seinen Knaben in die Kantonsschule zu schicken. Bald darauf starb der Vater. Dennoch konnte der Junge sein Studium fortsetzen. Die Erzählung, wie dies möglich wurde, hielt sich in unterschiedlichen Varianten auch in der mündlichen Überlieferung aufrecht. An der Abdankung von Johannes Schnyder 1901 wurde die Wende, die den einfachen und mittellosen Buben zum Mittelstand aufsteigen liess, folgendermassen beschrieben: «Die Fortsetzung seines Studiums war in Frage gestellt. Da führte ihn der treue Gott einmal in das Haus des bekannten Wohlthäters Banquier Johann Ulrich Zellweger. Dieser erkundigte sich über seine Verhältnisse und übernahm dann die Sorge für den strebsamen Jüngling. Er wollte ihn auf dem Pädagogium in Basel ausbilden lassen und schickte ihn zunächst in ein zürcherisches Landpfarrhaus, damit er dort mit einigen anderen jungen Leuten sich rasch die nöthigen Vorkenntnisse, besonders der alten Sprachen, erwerbe.»11
Die Erzählung, wie der Bub den Weg vom Heimetli bis in die grosse Universität in der Stadt fand, stellt eine Art Schlüsselgeschichte des Aufstiegs dar. Die starke Hand Gottes, der Fleiss des Knaben und die Güte des Donators Zellweger ebneten dem jungen Mann aus dem Bauern- und Heimarbeiterleben den Weg in das Bildungsbürgertum.12 In der Erzählung des Aufstiegs von Johannes Schnyder wird gleichzeitig betont, dass gerade die einfachen Verhältnisse den Jungen sich auf das Wesentliche konzentrieren liessen: Der jugendliche Johannes las beim Viehhüten die Bibel, in Ermangelung anderer Bücher im väterlichen Haushalt. «Mit 15 Jahren hatte er die Bibel viermal ganz durchgelesen.»13 Die Idylle des bibellesenden Buben beim Hüten der Tiere mutet selbst schon biblisch an und erinnert an die neuen Erweckungsbewegungen, bei welchen vor allem das Lesen der Bibel und die Nähe zur Natur sowie eine persönliche Beziehung zu Gott wichtig sind. So wird in der Geschichte des jungen Johannes bereits der Grundstein für seine spätere Position als Pfarrer gesetzt.
Das im obigen Zitat genannte Landpfarrhaus im Kanton Zürich, in welches Zellweger seine Zöglinge schickte, bereitete die Jungen ohne Vorbildung nicht nur auf die Universität vor. Dort lernten sie auch den bürgerlichen Lebensalltag kennen. Über diese Gewöhnungszeit ist ausser einer längeren Krankheit aus Überanstrengung und dem Lehrer, der während des Unterrichts rauchte, was die Knaben störte, kaum etwas überliefert. So wissen wir nicht, ob es den jungen Mann befremdete, ein eigenes Bett in einem grossen Haus zu haben, ob er mit den anderen jungen Männern eine Kammer teilte und wie die bürgerliche Küche ihm schmeckte. Auch können wir nicht sagen, ob er Heimweh hatte und die Arbeit im Freien vermisste oder ob er es genoss, nun nicht mehr bis spät in der Nacht am Webstuhl helfen zu müssen, sondern nach seinem eigenen Geschmack lesen und studieren zu dürfen.
Während seines Studiums in Basel wohnte Johannes Schnyder im theologischen Alumneum an der Hebelstrasse 17, das für unbemittelte zukünftige Theologiestudenten eine familiäre und kontrollierte Studiensituation ermöglichte: «Ihr Zweck ist zunächst, unbemittelte Jünglinge aus dem reformierten Theile unseres Vaterlandes, [...], welche sich dem Studium der Theologie gewidmet haben in einem christlichen Familienleben zu vereinen und ihnen die materiellen und geistigen Mittel zu ihrer Bildung darzureichen. [...] Der Inspektor und dessen Gattin werden sich als die Eltern der Alumnen betrachten und wünschen daher, dass dieselben ihnen kindliche Liebe und Vertrauen schenken, damit sich so ein wahres freundliches Familienleben gestalte.»14
17 Johannes Schnyder, um 1870.
Auch der Aufenthalt im Alumneum, so wird klar, diente der Sozialisierung der «unbemittelten Jünglinge», die wohl oft aus ländlichen Gegenden in die Stadt kamen. In einem «christlichen Familienleben» lernten sie die Werte und das Verhalten kennen, die von ihnen als zukünftigen Pfarrern nicht nur als Seelsorger ihrer Gemeinde, sondern auch als Vorsteher ihrer eigenen Familie verlangt wurden.
DER AUFSTIEG INS BILDUNGSBÜRGERTUM UND DIE HEIRAT MIT HÖHEREN TÖCHTERN
Nach seinem erfolgreichen Studium lernte Johannes während seiner Vikariatszeit bei Pfarrer Peyer in Behringen seine zukünftige Frau Sophie kennen. Sophies Familie gehörte zu den alten Schaffhauser Geschlechtern. Zudem war Sophie gebildet, wurde sie doch in die Höhere Töchterschule in Schaffhausen geschickt. Johannes Schnyder machte also eine gute Partie.
In der Eidgenossenschaft kommen Mitte des 19. Jahrhunderts Bauern und Handwerker durch die Demokratisierungsbewegung und das für alle zugängliche Schulwesen vermehrt in den Genuss einer höheren Ausbildung. Als Ärzte, Anwälte oder Pfarrer stiegen ihre Chancen, wichtige Positionen im öffentlichen Leben bekleiden zu können. Hilfreich auf diesem Weg «nach oben» war die Heirat mit einer Tochter aus dem gehobenen Bürgertum.15 Dem Begriff des Bürgers kommt in der Schweiz des 19. Jahrhunderts nicht die normativ-emanzipatorische Bedeutung zu wie