Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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Gemeinde hatte, erstreckte sich in besonderem Mass auf seine Kinder. Eine vorbildliche Erziehungsarbeit des Vaters an seinen eigenen Kindern entsprach dem in der Praxis umgesetzten Wort Gottes. So hatte jedes Kind des Pfarrers als Glied seiner Gemeinde ein besonderes Gewicht und musste mit viel Liebe dem Christentum zugeführt werden. «In wenigen anderen Familien bekamen die kleinen Kinder zu allen Zeiten so viel Aufmerksamkeit und Zuwendung gerade auch von den Vätern wie im Pfarrhaus.»48 So erzählte Johannes Schnyder an freien Nachmittagen Martha und Paula in Zofingen Geschichten von Johannes Huss, Zwingli und Luther, zu diesem Zeitpunkt waren die Mädchen etwa sechsjährig.49

      Der Unterricht beim Vater fand nicht nur an freien Nachmittagen statt, sondern vor allem für die grösseren Kinder auch in der Schule: So war der Vater für sieben seiner eigenen Kinder Religionslehrer, gab seinen Söhnen Ernst und Karl Latein- und Griechischunterricht und seiner Tochter Sophie Privatstunden in Latein, immer von sieben bis acht Uhr morgens. Er taufte alle seine Kinder und gab sieben von ihnen den Segen zur Konfirmation. Er übernahm einen durchaus gewichtigen Teil hausväterlicher Aufgaben im Bereich der Erziehung der grösseren Kinder:50 «Und wenn ich hinter den Lateinbüchern sitzen werde, so werde ich auch immer an den Verstorbenen denken müssen. Wie oft erzählte er uns Studenten Geschichten wenn wir an eine gewisse Stelle kamen, um uns das Lernen leichter zu machen.»51

      Der Unterricht der Söhne wurde vom Vater persönlich betreut und ergänzt, aber auch der Unterricht der Töchter war ihm wichtig. So erhielten Martha und Rosa Englischstunden beim Direktor der Sekundarschule: «Sehr viel Ehre machte ich ihm [dem Vater, Anm. A. S.] in diesem Fach nicht, aber obschon Herr Direktor einige Male bei ihm klagte, schalt er uns doch nicht; denn er wusste, dass unsere Zeit durch Schularbeiten sehr ausgefüllt war. Gleich nach der Stunde gingen wir in sein Studierzimmer, wo er über seiner Sonntagspredigt sass. Wir erzählten ihm, wie es uns ergangen, ob Herr Direktor zufrieden mit uns gewesen sei oder nicht.»52

      

19 Pelagius-Kirche Bischofszell, um 1900. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Kirche von der reformierten und der katholischen Kirchgemeinde paritätisch benutzt.

      19 Pelagius-Kirche Bischofszell, um 1900. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Kirche von der reformierten und der katholischen Kirchgemeinde paritätisch benutzt.

      Der Vater bezahlte die Stunden nicht nur, sondern kontrollierte nach dem Unterricht die Leistungen, indem die Mädchen bei ihm Bericht erstatteten. Im Lebensbild, das die Kinder kurz nach dem Tod des Vaters zeichneten, wirkte er als milder, aber strenger Förderer. Das Interesse des Vaters an den schulischen Leistungen der Töchter mochte zusätzlich auch ein Interesse am Schulbetrieb im Allgemeinen gewesen sein: «Welche Aufmerksamkeit schenkte er immer unseren Schulerlebnissen, besonders seit wir in die Sekundarschule gingen, an welcher er Präsident war. Da interessierte er sich für die kleinste Tatsache.»53

      Der Vater, Präsident der Schulkommission, konnte mit der Berichterstattung der Kinder nicht nur deren Betragen und Leistungen kontrollieren, sondern hatte zugleich guten Einblick in die Unterrichtstätigkeiten des Lehrpersonals. Den Pfarrerskindern kam dadurch wohl eine oft schwierige Rolle zu – sie standen zwischen dem Pfarrer und den Schulkameradinnen und Schulkameraden. Vorbild für die einen und Informanten für den anderen zu sein, muss auch anstrengend gewesen sein. Darüber wird aber nicht geschrieben.

      Die Erziehung und Bildung der Pfarrerskinder war exemplarisch. Denn wenn der Pfarrer seine eigene Familie zum vorbildlichen christlichen Leben führen konnte, so vertraute ihm die Gemeinde und glaubte seinem Wort.54 Pfarrerskinder gelangten so, ob sie wollten oder nicht, auf den Präsentierteller. «Um sein eigenes Leben mit seiner Verkündigung in Einklang zu bringen, blieb dem Pfarrer kaum ein anderes Feld als das der Kindererziehung. Hier konnte man die innere Stimmigkeit seiner Lehre, die Fruchtbarkeit seines Glaubens messen.»55 Die besondere Nähe des Pfarrers als Vater mochte für die Kinder zum Teil bedrückend gewesen sein. Beschrieben wird aber – gerade in den Texten der Kinder kurz nach dem Tod – die besondere Nähe zu einem Vater, dessen geistliche Aufgabe ihnen Schutz bedeutete. Dies wird in der Geste des väterlichen Segens besonders deutlich: «Jedes Mal bevor wir wieder nach den Ferien zur Schule gingen nahm er jedes bei Seite u. segnete es u. sagte zu uns: ‹Der Liebe Gott segne dich u. gebe dir Kraft deine Arbeiten u. Pflichten zu erfüllen. Sei fleissig u. aufmerksam und mache uns (den Eltern) u. Lehrern viel Freude.› Er sprach dann gewöhnlich noch Aarons Segen über uns u. wir waren dann neu gestärkt u. fröhlich gingen wir wieder in die Schule.»56

      Der zu diesem Zeitpunkt 13-jährige Karl beschrieb diesen Segen als eine Stärkung. Gertrud erwähnte dasselbe Ritual und ergänzte es durch die Information, der Vater habe ihr den Segen ins Ohr geflüstert. Die explizite Zuwendung, die jedes einzelne Kind erfuhr, muss die Jugendlichen beeindruckt haben. Der Vater, der als Pfarrer den direkten Zugang zu Gottes Segen hatte, konnte ihnen damit einen mächtigen Schutz mitgeben. Auch wenn er seine Kinder zu Hausbesuchen mitnahm, wird er als grosse, schützende Figur beschrieben. Dies kommt in den beinahe zu einer Legende verdichteten «Lebensbild eines lieben Entschlafenen» von Ernst Schnyder zum Ausdruck: «Abends stand oft schon der Mond überm Walde und beleuchtete den Heimweg, da tönte es denn auf der einsamen Strasse aus frischen Kinderkehlen von Vaters tieferer Stimme begleitet: Der Mond ist aufgegangen etc. Die Kleinsten durften Ihre Hände in Vaters grosse Taschen stecken und er führte sie durch Nacht und Nebel heim, wo Mutter ihrer schon wartete um die kleine müde Garde möglichst bald unter die warme Decke zu versorgen.»57

      Zu Kranken- und Hausbesuchen in der weit verzweigten Gemeinde nahm Johannes Schnyder immer wieder seine Kinder mit. Wieweit dies auch zur Entlastung der Gattin geschah, die wohl mit den Kleinsten zu Hause blieb, geht aus den Quellen nicht hervor. Glaubt man dem Zitat, so war der Pfarrer auch mit den jüngeren Kindern unterwegs, die dann ihre Hand in seine Tasche stecken durften. Dies wird auch von Rosa betont, wenn sie schreibt, er habe oft seine ganze Kinderschar nach Hauptwil, Gottshaus und auf den Tannenberg zu Hausbesuchen mitgenommen. Rührend mutet die Stimmung an, die Ernst in seiner Beschreibung heraufbeschwört, wie der grosse Vater seine Schar «durch Nacht und Nebel» heimbringt. Während der Vater als grosser Beschützer in den Erinnerungsbildern auftaucht, sind die Kinder gleichzeitig seine Helfer. Auf den Touren zu Haus- und Krankenbesuchen gab es immer wieder Gaben der Besuchten, die der Pfarrer, seiner Zuckerkrankheit wegen, nicht annehmen konnte: «Immer gab es Leute, welche die allezeit hungrigen Schnäbel mit Freuden fütterten. Ihm selbst war es oft unangenehm, wenn er das freundliche Anerbieten der Leute abschlagen musste seines Leidens wegen. Desto lieber sah er uns dann zu, wenn es allen so gut schmeckte.»58 Die Kinder übernahmen so die Aufgabe des Pfarrers, sich bewirten zu lassen.

      Die Beteiligung der Kinder an den Aufgaben des Vaters war immer auch Erziehung. Verstärkt wurde dies durch die unscharfe Trennung zwischen pfarrherrlicher Arbeit und dem Familienleben im Pfarrhaus. Der Pfarrer studierte zu Hause, er schrieb seine Predigt zu Hause, die seelsorgerischen Fälle kamen zu Hause vorbei. Dies bewirkte, dass die Kinder – wie die Pfarrfrau ohnehin – Aufgaben für den Vater oder für die Mutter zu übernehmen hatten. So liess Johannes Schnyder seine Töchter Klavierstunden nehmen, da sie baldmöglichst die Mutter, die oft im Wochenbett war, am Harmonium bei der Morgenandacht ersetzen mussten. Auch nahm er Lilly, Rosa und Sophie als Organistinnen zu verschiedenen Anlässen mit. In der Sonntagsschule wirkten die Töchter massgebend mit. Die kleineren Kinder hatten Botengänge für den Vater zu machen und beteiligten sich beim Sammeln der Kollekte. Die grosse Kinderschar war für den Pfarrer eine Stütze in der Gemeinde.

      Das Arbeitspensum, das sich der Pfarrer auferlegte, war, nach den Worten seines Sohnes, der die Bestattungspredigt hielt, mit der Losung zusammenzufassen: «Ich muss wirken die Werke dess, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.»59 Zu diesem Werk gehörte es, die Kinder auf den rechten Weg zu führen, sowohl die eigenen wie auch die Gemeindemitglieder, die als Gotteskinder verstanden wurden. Die Worte, die an Johannes Schnyders Beerdigung von ‹einem Freund› gesprochen wurden, zeigen die Nähe der Rollen des Vaters und des Pfarrers noch einmal:

      «Vater und Pfarrer, das geht in einem:

      Ihr Kinder, weint an des


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