Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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des Bürgertums in Deutschland und in der Schweiz: Ein Adel, von dem man sich hätte abgrenzen und so bürgerliches Profil gewinnen können, existierte nicht, und die formale staatsbürgerliche Gleichheit war seit 1848 politisch durchgesetzt.»16 Jedoch verwendete die neue Elite, die aus Aufsteigern, Kleinbürgern und Zugezogenen bestand, die Rhetorik von Volk und Herren, um die Privilegien der alten Familien zu kritisieren. Tatsächlich begann sich eine klare Unterscheidung durchzusetzen: die zwischen Bürgern und Arbeitern. Die Bürger, hier als Besitzende, als Bourgeois verstanden, versuchten jedoch, diese Unterscheidung so wenig als möglich in Umlauf zu bringen.17 Das Bürgertum, zu dem nun Johannes Schnyder neu gehörte, ist ein schwer zu definierender, beweglicher Körper, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neu formierte.

      Um sich deutlich von seinem früheren Status als Heimarbeiter- und Bauernsohn abzugrenzen, veränderte Johannes Schnyder seinen Namen: Er führte während der 1870er-Jahre in den bäuerlichen Namen Schneider das als edel geltende ‹y› ein. Der Name begegnete ihm bei einer luzernischen Familie Schnyder von Wartensee, bei der er als junger Hauslehrer unterrichtete.18 «Erst Johannes Schnyder hat begonnen, seinen Namen mit y zu schreiben, was aber, um offizielle Richtigkeit zu beanspruchen, den zustimmenden Beschluss des Regierungsrats des Kantons St. Gallen vom 1. Dez. 1881 nötig machte.»19 Mit dieser aufwändigen Amtshandlung wertete Johannes seinen Familiennamen auf und passte ihn seiner neuen Position an, ja, der Name verwies gar über die jetzige Position hinaus auf eine herrschaftliche Vergangenheit.

      Ebenfalls zum Aufstieg von Johannes Schnyder gehörte die örtliche Verschiebung, weg vom abgelegenen ärmlichen Tal in die vom freisinnigen Bürgertum dominierten Schweizer Städte. In der kleinen Gemeinde Fehraltorf im Zürcher Oberland gründete er seine Familie, mit fünf kleinen Kindern und seiner schwangeren Frau wurde er 1880 nach Zofingen berufen, einer prosperierenden, zentral gelegenen Kleinstadt. Im Jahr der Berufung nach Zofingen starb die erste Frau, Sophie, an der Geburt ihres sechsten Kindes. Mutter und Kind wurden gemeinsam in einem Sarg auf dem Zofinger Friedhof beigesetzt, wo der Vater jeden Sonntag mit seinen Kindern das Grab der Verstorbenen aufsuchte.

      Der viel beschäftigte Pfarrer konnte sich unmöglich um seine Kinder kümmern; eine Schwester der Verstorbenen, Meta Peyer, übernahm den Haushalt. Wie dies sowohl Ernst als auch Lilly in ihren Erinnerungen an ihren Vater schreiben, hatte diese Tante wenig Geschick bei der Führung der Kinder, auch musste sie gleichzeitig ihren kranken Vater pflegen. Die übliche und nahe liegende Variante, eine Schwester der Verstorbenen zu heiraten, schien Johannes Schnyder nicht in Betracht gezogen zu haben, obwohl die beiden Schwestern Meta und Pauline Peyer noch ledig gewesen wären.20 Vielmehr begann der Verwitwete in Freundeskreisen nach einer geeigneten Frau und Mutter für die fünf Kinder zu suchen. Der aus der Ostschweiz stammende Melchior Schuppli, Rektor der Neuen Mädchenschule in Bern, konnte Johannes eine gute Partie anbieten:21 Caroline Wyttenbach, Lehrerin an seiner Schule, 27 Jahre alt. Sie stammte aus dem Berner Patriziat, allerdings einem verarmten Zweig mit wenig Einfluss, weshalb sie auch als Lehrerin ihren Unterhalt verdienen musste. Sie entschloss sich zur Ehe mit Johannes und übernahm den Pfarrhaushalt und die Erziehung der Kinder. In rascher Folge kamen in Zofingen weitere sieben Kinder zur Welt, von welchen eines im Alter von zweieinhalb Jahren starb. Die Pfarrersfrau wird als eine «verständnisvolle Lebensgefährtin»22 beschrieben. Verständnis war wohl notwendig, denn der Gatte hatte immer noch den Schmerz um seine verlorene Frau zu verwinden, eine grosse Gemeinde zu betreuen, war in kirchenpolitische Auseinandersetzungen verwickelt, ein begehrter Redner und daher viel abwesend.

       DIE «POSITIVE» THEOLOGIE UND DER ZOFINGER ABENDMAHLSHANDEL

      Johannes Schnyder fand während seines Studiums in Basel, Tübingen und Zürich in der Strömung der positiven Theologie sein Glaubensverständnis bestätigt.23 Die positive Richtung, auch als religiöser Konservativismus oder als die orthodoxe Vertretung der Kirche bezeichnet, erhielt in der Schweiz nach dem Sturz Napoleons vor allem durch das Bündnis der kirchlichen Erweckungsbewegung und der politischen Reaktion grosses Gewicht.24 Johannes war ein «Positiver». Konservative, dem freisinnigen Fortschrittsdenken kritisch gegenüberstehende reformierte Kreise zählten sich zu dieser Bewegung. Gegen diese konservative Haltung bildete sich der religiöse Liberalismus heraus, auch als Reformbewegung oder freisinnige Vertretung der Kirche bekannt. Religiöser und politischer Liberalismus waren in der Schweiz eng miteinander verbunden. Dies mag damit zusammenhängen, dass der Pfarrer in der Schweiz immer auch Staatsangestellter war und daher durchaus eine politische Rolle zu spielen hatte.25 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die traditionelle Behördenautorität der Pfarrer – durch den Einfluss liberaler Strömungen – deutlich verkleinert: «Die revidierte Bundesverfassung 1874 garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Zivilehe wurde obligatorisch, die Ehescheidung war schon 1854 definitiv in die Hände der weltlichen Gerichte gelegt worden.»26 Der religiöse Liberalismus beurteilte die kirchlichen Dogmen kritisch, begann die Texte der Bibel als interpretierbare «Literatur» zu verstehen und verlangte die Bekenntnisfreiheit.27 Gerade die Bekenntnisfreiheit führte zu heftigen Debatten, die weit über kantonale Grenzen hinaus diskutiert wurde. Wie zum Beispiel der Zofinger Abendmahlshandel, in welchen Johannes Schnyder verwickelt war.

      Als Johannes Schnyder 1879 nach Zofingen berufen wurde, war Zofingen eine reformierte Zunftstadt, deren Handel und Gewerbe blühte und die bald zur Hochburg der immer einflussreicheren freisinnigen Partei wurde. Johann Gottfried Matter, ein Liberaler und Fortschrittlicher, der von 1869 bis 1890 Stadtammann war, setzte sich vehement für Nationalbahn und Schulhausbau ein und förderte den Bau der Gas- und Wasserversorgung.28 Die reformierte Kirchgemeinde Zofingen setzte sich aus den zwei oben geschilderten religiösen Gruppierungen zusammen. Die Liberalen hatten ihre geistige Heimat im Verein für freies Christentum, während die Positiven sich im Evangelischen Verein versammelten.29 Die zwei Pfarrer der grossen Kirchgemeinde gehörten je einer Richtung an, die Kirchenpflege setzte sich aus Vertretern der Positiven und der Liberalen zusammen. Johannes Schnyder war ein klarer Vertreter der Positiven: «Es war eine gewaltig grosse Arbeit, die er in Zofingen that: (Bei 13 Konfirmationen hat er über 1600 Söhne und Töchter eingesegnet). Er that dies mit Freuden und viel Liebe und Anerkennung lohnte es ihm. Er wurde der geistige Führer der Positiven im Kanton, die mehr und mehr für wahren Fortschritt und wirkliche Freiheit einstanden und kämpften auf religiösem und kirchlichem Gebiet. Am schärfsten spitzten sich die Gegensätze in Zofingen selbst zu, und wenn auch Schnyder allezeit schlagfertig für Wahrheit und Wahrhaftigkeit in die Schranken trat, so litt er doch mehr unter diesen Verhältnissen, als Fernerstehende ahnten, und wurde recht kampfesmüde.»30

      Die Zeit, in welcher Johannes Schnyder als Pfarrer in Zofingen amtete, war geprägt von heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Kirchgemeinde. Es entbrannte ein erbitterter Streit zwischen dem positiven Schnyder und dem freisinnigen Pfarrer Johann Rudolf Egg des Ortes, der eine nicht unbedeutende Zahl von Anhängern hinter sich scharte.31 Einer der strittigen Punkte zwischen Liberalen und Positiven war die Frage um das apostolische Glaubensbekenntnis. «Die Reformer kämpften gegen die Verpflichtung, in Gottesdiensten, bei den Taufen und beim Abendmahl das Apostolicum als christliches Bekenntnis zu verlesen. Es gab zahlreiche Pfarrer, die einzelne Sätze dieses Bekenntnisses nicht als ihren Glauben bezeugen konnten oder die wesentliche Aussagen der Evangelien im Bekenntnis vermissten. Sie empfanden den Bekenntniszwang mehr und mehr als eine Knechtung ihres Gewissens. [...] So kam es denn in den sechziger und siebziger Jahren zu erheblichen Auseinandersetzungen in den einzelnen Kantonalkirchen und ihren Synoden um die Frage des Bekenntnisses. Das Ergebnis war, dass fast überall der Zwang zum Apostolicum [...] aufgehoben wurde. Die evangelischen Kirchen der Schweiz waren die ersten Kirchen auf dem Kontinent, die den Bekenntniszwang abschafften und damit ihren Gliedern – und ihren Pfarrern – Bekenntnisfreiheit schenkten.»32 Diese Bekenntnisfreiheit nun war es, die in Zofingen zum Streit führte. Die Wahl des «als scharfer Liberaler»33 bekannten Pfarrers Johann Rudolf Egg 1887 veranlasste Johannes Schnyder dazu, die bisher gemeinsame Abendmahlsfeier in Frage zu stellen. Er ahnte wohl, dass die Verlesung des apostolischen Glaubensbekenntnisses, an welchem ihm selbst viel lag, an der Seite des Reformers Egg kaum mehr geduldet würde. Möglicherweise beabsichtigte Pfarrer


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