Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten - Arlette Schnyder


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Herzen all’ verdankt was er im Herrn Euch gab,

      Da tröstend er Euch wies zum Heiland hin.

      Doch ob Ihr weint um diesen Vater der Gemeinde,

      Der alle liebte, Freunde, wie die Feinde,

      So gönnt ihm doch das Glück beim Herrn daheim

      Ja er ging heim!»60

       INNERE UND ÄUSSERE MISSION – PIETISMUS IM PFARRHAUS DES 19. JAHRHUNDERTS

      Was Pfarrer Schnyders Schaffen in allen Bereichen prägte, war seine grosse Begeisterung für die Werke der inneren und äusseren Mission. Diese missionstheologische Überzeugung soll im Folgenden in Verbindung mit dem Begriff des Pietismus betrachtet werden, der die geistige und religiöse Haltung der Pfarrfamilie Schnyder zusätzlich charakterisierte.

      Der Pietismus war eine religiöse Erneuerungsbewegung des Protestantismus des späten 17. und 18. Jahrhunderts und gilt neben dem englischen Puritanismus als die bedeutendste religiöse Bewegung seit der Reformation.61 Der Beginn des Pietismus wird auf das Erscheinen von Philip Jakob Speners «Pia Desidera» 1675 datiert.62 Er war eine Reaktion auf die als totes Gewohnheitschristentum angesehene altprotestantische Orthodoxie. Die Begründer des Pietismus setzten dagegen auf Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens und entwickelten neue Formen persönlicher Frömmigkeit und gemeinschaftlichen Lebens.63 Den Pietisten ging es um einen lebendigen, «gelebten» Glauben, es genügte nicht, die Kirche zu besuchen und eine Predigt anzuhören. «Wichtig war die persönliche Heiligung, zur Vollkommenheit zu gelangen. Diese neue Wendung ins Persönliche wird auch als ‹religiöser Individualismus› bezeichnet.»64 Nebst Spener gilt der im 18. Jahrhundert in Halle tätige August Hermann Francke als Vater des Pietismus. Dieser gründete so genannte Reformanstalten, die nach damals fortschrittlichsten pädagogischen Erkenntnissen geführt wurden. Innerhalb des Pietismus erhielten Frauen eine relativ starke Position, ihre Ausbildung wurde als unabdingbar angesehen. So waren von rund 2000 Schülern an Franckes Schule fast die Hälfte Mädchen.65 Die Kinder Gottes sollten alle ihre persönliche Beziehung zu Gott aufbauen können. «Die Schüler seiner Einrichtungen waren Träger pietistischer Ideale. Indem sie in ihren jeweiligen Ämtern diese Ideale nach aussen trugen, bildeten sie ein Netzwerk pietistischer Stützpunkte innerhalb und ausserhalb Europas. Francke war treibende Kraft für viele christliche Werke, so die ‹Innere Mission› als Kranken- und Armenfürsorge und die ‹Äussere Mission› in Südindien.»66 Diese Aufteilung setzte sich im Sprachgebrauch pietistischer Kreise durch, sodass auch Johannes Schnyder sich selbst als Verfechter der inneren und äusseren Mission bezeichnete.

      Wenn ich von Johannes Schnyder als Pietisten spreche, so bedeutet dies nicht, dass er sich selbst als solchen bezeichnete. Dies spiegelt die Schwierigkeiten bei der Verwendung des Begriffes im Allgemeinen wieder. Als eine Art Sammelbegriff der geistigen Haltung protestantischer Erneuerungsbewegungen wird er relativ unscharf verwendet.67 So betonte Johannes Schnyder in seiner Schrift, dass die Mission nicht von «engen Pietisten» vertreten würde, sondern von frei- und weitdenkenden Menschen.68 Die Basler Mission, für welche sich Johannes Schnyder besonders einsetzte, war eine der deutschsprachigen Missionsgesellschaften, die durch den so genannten württembergischen Pietismus stark geprägt war. Das Selbstverständnis dieser einflussreichen Missionsgesellschaft war bis ins 20. Jahrhundert von diesem Geist geprägt.69 Wenn sich Johannes Schnyder für die Werke der inneren und äusseren Mission einsetzte, sich aber gegen die Etikettierung «pietistisch» abgrenzte, spiegelt dies diskursive Feinheiten im ausgehenden 19. Jahrhundert wider.70 Eine exakte Positionierung war gerade innerhalb der religiösen Richtungen wichtig. So zählte sich Johannes Schnyder zu den «Positiven», womit er seinem Handeln ein politisches Profil gab. In den Augen der Positiven war Francke der «positive Praktiker», während Rousseau der «negative Theoretiker» war. Wenn ich in dieser Arbeit vom Pietismus der Familie Schnyder spreche, so meine ich damit ihre durch diese religiöse Erneuerungsbewegung spezifische soziale und kulturelle Prägung und die damit zusammenhängende alltagsstrukturierende Denkweise und Weltsicht.

      Johannes Schnyders Überzeugung war es, die Mission sei «das grossartigste Werk der Gegenwart»,71 und er setzte sich dementsprechend dafür ein. So muss man sich vorstellen, dass der «Basler Evangelische Heidenbote» und das «Evangelische Missions-Magazin» sowie der «Christliche Volksfreund» von den Eltern gelesen und besprochen wurden; auch die heranwachsenden Kinder lasen die Blätter und setzten sich mit den Themen auseinander. Wie bereits oben erwähnt, unterhielt Johannes Schnyder gute Beziehungen zur Basler Mission, der wohl einflussreichsten protestantischen Vertreterin der «äusseren Mission» in der Schweiz und in Süddeutschland. Zudem lag ihm das seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz aufkommende Diakonissenwesen, das im Dienste der «inneren Mission» stand, am Herzen. Seine erste Frau, Sophie Peyer, wäre Diakonisse geworden, hätte sie nicht den jungen Vikar kennengelernt, ihre Schwester war Diakonisse in St-Loup, deren Vater, Pfarrer Peyer, war ein engagierter Mann im Diakonissenwesen. Auch eine Schwester von Caroline, der zweiten Frau Johannes’, wurde Diakonisse.

      Wie stark diese Netzwerke weiterwirkten, zeigen die Lebensläufe der Nachkommen von Johannes Schnyder. So wählten zwei seiner Töchter den Beruf der Diakonisse, wobei eine entgegen ihrem Wunsch ihre Schwesterntracht wieder ablegen musste. Ernst, der älteste Sohn, wurde nicht nur Pfarrer, sondern auch Präsident des Missionsvereins Thurgau sowie Präsident der so genannten Heimatgemeindevertretung der Basler Mission, der eigentlichen Synode des ganzen Missionswerks im In- und Ausland. Ernsts Frau Luise war die Tochter des Hausgeistlichen und Vorstehers des Diakonissenhauses Neumünster in Zürich. Sophie arbeitete als Sekretärin bei der Basler Mission, die übrigen Geschwister waren an Bazaren tätig, sammelten und spendeten selbstredend sowohl für die innere wie für die äussere Mission. Zwei von Johannes Schnyders Enkeln fuhren mit der Basler Mission für Jahre nach Übersee.

      Ein Überblick über die veröffentlichten Schriften von Johannes Schnyder spiegelt seine Überzeugungen: ein Lebensbild des Zürcher Antistes Breitinger,72 eine volkstümliche Biografie des Johann Hinrich Wichern, des Vaters der inneren Mission,73 eine Abhandlung über Recht, Pflicht und Erfolg der Mission74 und eine abgedruckte Rede zum Buss- und Bettag im Jahresbericht des Thurgauer Missionsvereins.75

      Was den Pfarrer am Missionsgedanken faszinierte, kann anhand seiner 1882 veröffentlichten Schrift «Der Evangelischen Heidenmission Recht, Pflicht und Erfolg» erläutert werden: Schnyder teilte mit dem Sprachforscher Max Müller die Religionen in missionierende und nicht missionierende ein. Die nicht missionierenden Religionen, so Schnyder weiter, erstarrten zu Mumien, während die missionierenden Religionen lebendig seien. Müllers wie Schnyders Überzeugung war es, dass das Christentum im höchsten Mass missionierend sein müsse, da es die Offenbarungsreligion des lebendigen Gottes sei.76 Der Auftrag, die Botschaft Gottes an alle weiterzugeben, wurde dementsprechend nicht nur als ein Werk der Barmherzigkeit gegenüber der Heidenwelt angesehen,77 sondern auch als «eine Pflicht der Selbsterhaltung für die alte Christenheit».78 Die Mission – so die Erklärung – erneuere den eigenen Glauben, indem sie ihn ausbreite und verkünde. Dass es bei dieser Ausbreitung nicht nur um Glauben ging, sondern auch um territoriale Ansprüche der expandierenden Wirtschaftsmächte Europas, wird aus dem durchaus pragmatischen Fortschrittsdenken des Missionsfreundes schnell deutlich: Die Mission helfe nämlich dem rasenden Fortschritt, neue Gebiete erschlössen sich dem Weltverkehr und dem Handel, denn die Mission erziehe die Heiden zur Arbeit und zum Pflichtgefühl.79 Diese Argumentation macht sichtbar, dass 1882 der wirtschaftliche Faktor der Mission durchaus in Betracht gezogen wurde und als Argument gegen das den «engen Pietisten» anhaftende altertümelnde Bild verwendet wurde.

      Die Erfolge der Mission dienten nach der Ansicht ihrer Förderer nicht nur und vor allem der Expansion der Kolonialmächte, sondern führten vor allem zu einer Erneuerung und Erfrischung des eigenen Glaubens: «Wie es Freiheit wirkt statt der Sklaverei, friedliches Beisammenwohnen statt des endlosen Kriegens und Mordens; Freude und Hoffnung statt der trotzigen Furcht und Angst, die sonst ihr Leben beherrschte; wie Gerechtigkeit waltet,


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