Geschwistergeschichten. Arlette Schnyder
Toleranzgrenze überschritt, indem er das Apostolicum verlas, was für seinen liberalen Kollegen, der gemeinsam mit ihm das Abendmahl verteilte, als Provokation verstanden werden musste.34 Daraufhin kam es zu heftigen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Anfeindungen, worauf die Feier des Abendmahls ab 1889 tatsächlich getrennt durchgeführt wurde.
18 Johannes Schnyder, um 1890.
Die beiden Pfarrherren wurden von der Kirchenpflege um die Darlegung der gegenseitigen Beschuldigungen gefragt: Schnyder reichte eine 54-seitige Beschwerde ein, Egg eine 30 Seiten starke. Zur Behandlung der Beschwerden kam es jedoch nie – Pfarrer Egg bot Schnyder an der zur Aussprache bestimmten Sitzung im Januar 1890 eine überraschende Versöhnung an, von der angenommen wird, sie sei im Vornherein von den Behörden und Egg abgefasst und vorbereitet worden.35 Die Feier des Abendmahls sollte wieder gemeinsam begangen, die Streitigkeiten begraben werden. Schnyder willigte, wenn auch zögernd, ein, folgte aber zwei Jahre darauf einer Berufung an die paritätische Gemeinde Bischofszell im Kanton Thurgau, wo er als guter Redner und treuer Seelsorger bis zu seinem frühen Tod 1901 geschätzt wurde. Doch auch noch von Bischofszell aus hielt er feurige Reden und verfasste Schriften, in denen er die Christen daran erinnerte, dass das Abbröckeln der Bekenntnisse und das Relativieren der Bibeltexte von der Kraft des Christentums wegführe. Eine von Pfarrer Schnyder am Buss- und Bettag gehaltene Rede, die 1895 in einem Bibelbericht abgedruckt wurde, verdeutlicht dies: «Es gibt in der ganzen Welt nichts, das so sehr die Kraft des Beharrens und die Kraft wahren Fortschrittes zugleich in sich trägt, das die Vergangenheit so gewaltig erfüllt und doch einer reichen Zukunft froh und voll ist, das so umgestaltend, so hinreissend ist, als wirkliches Christentum. Kaum aber haben wir also fröhlich unsern Glauben ausgesprochen, so hören wir Stimmen, die im Tone des Bedauerns oder gar der Verachtung uns entgegnen: ‹Ihr verkennt die Gegenwart. Jede auch weltgeschichtliche Erscheinung hat nur ihre bestimmte, gemessene Zeit. So auch euer Glaube. Alte Mauern und Thürme sind es noch, von Epheu umrankt, mehr nicht. Noch klammern sich daran die Schwachen, das lebendige Geschlecht der Wissenden und Starken wendet sich ab von ihm. Seht ihr denn nicht, wie Stein um Stein von eurer ehrwürdigen Ruine abbröckelt, geschüttelt vom Erdbeben einer neuen Zeit? Es wankt der Glaube, es sinken zusammen die Bekenntnisse, es weicht auch der letzte Pfeiler, die Schrift, und ihre erklärten Feinde wie ihre berufenen Hüter, sie schaufeln gemeinsam ihr Totengrab.› Christengemeinde! Es mögen nicht viele unter uns sein, die nicht schon so oder ähnlich haben reden hören und dadurch betrübt, beunruhigt, erschreckt worden sind. Haben wir da noch ein Recht, christliche Feste [...] zu feiern?»36
Die Frage des Pfarrers, ob christliche Feste noch gefeiert werden können, ist innerhalb der Debatte um Freizeit und Sonntagsgesetze zu verstehen, die in den 1890er-Jahren die Gemüter bewegte.37 Johannes Schnyder wehrte sich für die Einhaltung der Sonntagsruhe und setzte sich gegen die Historisierung der Bibel und des Christentums ein. Er wollte dieses als eine ewige Kraft verstanden wissen, die gleichzeitig den Fortschritt und das Beharren in sich vereint. Kritische Stimmen hörte Schnyder wohl auch in Bischofszell, die Positiven hatten jedoch im Thurgau relativ viel Einfluss.38
In den Biografien der Kinder Johannes Schnyders zeigte sich eine der liberalen Bewegung kritisch gegenüberstehende «positive» Haltung wirkungsmächtig: So zählte sich Ernst Schnyder als Pfarrer in Schaffhausen noch zu den Positiven, Hans sass im Vorstand des Sonntagsheiligungs-Vereins Thurgau, Paula folgte der Oxford-Gruppe, die als eine moderne Form der Positiven verstanden werden kann,39 Martha setzte sich dafür ein, dass das Töchterinstitut nicht zum reformierten Töchterinstitut umgewandelt wurde, sondern «seinen evangelischen Grundsätzen» treu blieb,40 und Sophie schrieb am 15. Mai 1930 an ihren Bruder Walter über die Richtungskämpfe innerhalb der Basler Mission: «Frau Degen lässt sich in die freisinnige Fortschrittspartei der Leonhardskirche wählen! Nächstens werde ich noch wegen meiner eher negativen Positivität im Haus hinausgeschmissen. Wir haben nämlich jetzt gerade einen ziemlichen Strauss in der Missionsgemeinde mit den Freisinnigen, weil hauptsächlich die Basler Mission nicht haben wollte, dass die Ost-Asien Mission in den Deutsch Evang. Missions-Ausschuss, der auf dem positiven §2 (Christus Gottes Sohn) fusst, aufgenommen würden, weil sie eben diesem § nicht zustimmen können.»41
Sophie war entsetzt, dass die Freisinnigen innerhalb der Missionsgemeinde immer grösseren Einfluss hatten, gleichzeitig stand sie der Religion im Allgemeinen kritisch gegenüber. Die Prägung durch das Elternhaus wirkte sich hier bis zu einem eigenartigen Widerspruch aus, den Sophie selbst als «negative Positivität» bezeichnete.
PFARRER UND VATER: SEELSORGE UND UNTERRICHT AUF SCHRITT UND TRITT
Mit der auf elf Kinder angewachsenen Grossfamilie, seiner Gattin und deren Schwester, der Köchin und einem Dienstmädchen zog Johannes Schnyder nach Bischofszell. Den Umzug überliess der Vater den Frauen und seinem damals 19-jährigen ältesten Sohn: «Er konfirmierte seine Konfirmanden in Zofingen an Weihnachten und hielt am Sylvester seine Abschiedspredigt. Dann fuhr er zu Vetter Mägis in Solothurn für einige Tage und überliess mir die Zügelei. Ich half beim Packen in Zofingen, fuhr mit dem letzten Zug bis Winterthur und andern morgens mit dem ersten nach Bischofszell [...]. Dann ging das Einräumen los. Ich hatte einen Plan und konnte die Träger nur dirigieren. Aber nachher kam das Plazieren der Möbel und hunderterlei Besorgungen. [...] Als wir fertig waren, kam der Einzug der Familie Schnyder abends 6 Uhr. Eltern, Tante, Meieli, und ein junges Dienstmädchen und 11 Kinder. Die Bischofszeller verglichen den Einzug mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten. Man zog mit Musik und Fackelbeleuchtung vor das Pfarrhaus, wo der neue Pfarrer in der bittern Kälte ein Begrüssungswort sprechen musste.»42
Die aus den Memoiren von Ernst zitierte Stelle macht deutlich, wie stolz der Älteste gewesen sein mochte, dass der Vater ihm «die Zügelei» überliess – wahrscheinlich eine leichte Übertreibung, da im Haushalt ja immerhin mehrere erwachsene Frauen mit anpackten, schliesslich waren seine beiden Schwestern Marie (Lilly) und Hedwig nur wenig jünger als er. Tatsächlich aber übernahm der Sohn wohl die Aufgaben, die dem Familienvater sonst zugestanden wären. Der etwas gewagte biblische Vergleich des Einzugs in Bischofszell mit dem «Auszug der Israeliten aus Ägypten», der von den Bischofszellern angestellt worden sei, blieb in den Familienerzählungen erhalten. Die Gleichsetzung des Einzugs der Pfarrfamilie mit dem Auszug eines Volkes scheint eigentümlich. Gemeint war möglicherweise der Auszug aus Zofingen ins gelobte Bischofszell? Die Beschreibung der Rede, die der Pfarrer für seine Gemeinde noch am Altjahrsabend halten musste, schliesst die insgesamt biblisch wirkende Szene ab: Der alttestamentarische Führer schart seine Leute um sich und begrüsst sie in der bitterkalten Nacht im Schein der Fackeln.
Der neu berufene Pfarrer betreute das grosse Gebiet zweier Gemeinden: die paritätische Kirchgemeinde Bischofszell und die reformierte Kirchgemeinde Hauptwil. Das grosse, ehrwürdige «Daller’sche» Kontorhaus wurde 1875 von der evangelischen Kirchgemeinde als Pfarrhaus hergerichtet.43 Die Kirchgemeinde Bischofszell zählte zwei Jahre vor dem Antritt des Pfarrers 2853 reformierte Seelen, davon waren 592 stimmberechtigt.44 Am Ende der Amtszeit Pfarrer Schnyders um 1900 war die Zahl der Kirchgemeindemitglieder auf 3115 angewachsen, darunter befanden sich 650 Stimmberechtigte und 640 Haushaltungen.45 Die Kirchgemeinde Hauptwil war kleiner, die Haushaltungen weiter verstreut.
Johannes Schnyder hatte in beiden Orten die Predigt zu halten, Hochzeiten, Beerdigungen und Taufen vorzubereiten und durchzuführen, den Konfirmandenunterricht abzuhalten sowie Latein und Griechisch zu unterrichten. Die Jahresberichte der Kirchgemeinde zählen als Unterweisungslehrmittel die Lutherbibel und die Familienbibel auf, in der Kinderlehre wurde «Das Leben Jesu II» im Kinderlehrebuch durchgenommen sowie vor allem der Auftrag der inneren und äusseren Mission vermittelt. Der Bischofszeller Kirchenchor, in welchem der Pfarrer massgebend mitwirkte, zählte um 1900 60 Mitglieder, die Zahl sank jedoch nach dem Tod Johannes Schnyders bis 1910 auf 40.46 Als Schulvorsteher hatte Schnyder auch im Schulwesen ein bedeutendes Gewicht. Zudem hatte die Bürgergemeinde seit 1870 sämtliche Dokumente des Armenwesens der Kirchgemeinde zur Verwaltung