Volk Gottes. Georg Bergner
auch die nähere Bestimmung des Verhältnisses von gemeinsamem und amtlichem Priestertum. Die Kirche ist als Gemeinschaft auf dem Weg zur Vollendung.212
Auf verschiedenen nationalen Laienkongressen wird der Weltkongress vorbereitet. Beachtenswert ist dabei der Kongress in Löwen, an dem im Dezember 1956 über 3000 Teilnehmer deutliche Kritik an der Verschlossenheit der Kirche gegenüber der modernen Welt üben und für eine kirchliche Erneuerung plädieren. Die Themen des Löwener Treffens, das u.a. von Gerard Philips organisiert wird, spiegeln den aktuellen Stand der Debatte wieder. Es geht um die Kirche als Heilsmysterium, die Rolle der Laien in der Kirche, ihr Apostolat und ihre Spiritualität, den kritischen Blick auf die heutige Welt sowie das Verhältnis von Klerus und Laien.213
Auf dem Weltkongress für das Laienapostolat vom 5–13. Oktober 1957 kommen 2000 Delegierte aus den verschiedenen Aktionen und Bewegungen aus der ganzen Welt zusammen, davon ein Drittel Frauen. Pius XII. beschreitet in seiner Eröffnungsansprache angesichts der neueren Entwicklungen einen Mittelweg zwischen Tradition und Innovation. So verweist er auf die fundamentale Einheit aller Gläubigen im „Leib Christi“214, unterscheidet jedoch zwischen dem Apostolat der Bischöfe und Priester und dem Apostolat der Laien.215 Letzteres besteht vor allem im Auftrag zur Heiligung der profanen Welt, der „consecratio mundi“, bei der ihnen die Priester hilfreich zur Seite stehen sollen.216 Auch wenn der Papst die Notwendigkeit der Leitung durch den Klerus nicht in Frage stellt, kommt es so doch zu einem gewissen Perspektivwechsel.217 Zudem überrascht der Papst die Anwesenden durch eine vorsichtige Öffnung der Katholischen Aktion. Da diese nicht alle Initiativen der Laien ersetzen oder in sich aufnehmen kann, kann das Laienapostolat nicht eng auf die hierarchisch geleitete Tätigkeit der offiziellen Katholischen Aktion begrenzt werden. Alle Initiativen sollten vielmehr als eine föderative Einheit des kirchlichen Apostolates verstanden werden.218
Während die meisten Redner des Kongresses eine eher traditionelle Sicht auf das Laienapostolat vertreten219, äußert sich Gerard Philips klar in Richtung einer Öffnung: „Das ganze Volk Gottes auf dem Weg, alle Glieder des Leibes Christi […] entdecken ihre apostolische Berufung neu.“220 Die Berufung und Sendung als Grunddimensionen des christlichen Lebens bedeuten, sich in Bewegung zu setzen. Christus beruft zwar zunächst die Apostel, bleibt aber nicht bei der Hierarchie stehen. Die Laien werden unter die Menschen gesandt, um aus der Menschheit eine Menschheit der Geretteten zu machen.221 „Laie“ ist ähnlich wie „Apostel“ ein „titre sacré“. Als Mitglieder des „Volkes Gottes“ sind sie Träger der göttlichen Berufung.222 Philips’ Ausführungen finden ihren Widerhall in der Schlusserklärung des Kongresses: „Mehr als je zuvor sind die Laien, als Mitglieder der Kirche, des Volkes Gottes auf dem Weg auf gerufen, mit der Hierarchie zur Erfüllung der Sendung der Kirche zusammenzuarbeiten, die auf der Erde das Erlösungswerk Christi weiterführt.“223 Kurz vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils findet damit der „Volk Gottes“-Begriff Eingang in ein offizielles römisches Dokument. Ein ökumenischer Beobachter des Kongresses spricht von einer Wiederentdeckung dieses biblischen Begriffes in der katholischen Kirche224 und prognostiziert: „Indeed, the developement of a genuine lay apostolate is dynamite for the traditional Roman Catholic conception of the church.“225
1.4 Liturgie und Kirchenbild
Abschließend soll zumindest noch kurz auf den Beitrag der Liturgischen Bewegung eingegangen werden. Zurecht wird betont, dass die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums in zentralen Aussagen ein Kirchenbild vertritt, das später auch für „Lumen gentium“ prägend sein wird.226 Dieser Zusammenhang ist kein Zufall:
Die Frage nach der Rolle der Laien in der Kirche und der Bedeutung der Katholischen Aktion ist mit der Geschichte der Liturgischen Bewegung verbunden. Der Startimpuls für die neuere Liturgische Bewegung wird im sog. „Mechelener Ereignis“ gesehen.227 Unter der Schirmherrschaft des Ortsbischofs, Kardinal Mercier, findet im belgischen Mechelen 1909 der nationale „Congrès des Œuvres catholiques“ statt. Diese Versammlung der katholischen Vereinigungen und Laienbewegungen hat ursprünglich ein politisch-gesellschaftliches Ziel. Es geht darum, die Katholiken Belgiens aus den verschiedenen politischen Lagern und Landesteilen zu einen. Kardinal Mercier will zudem das aufkommende demokratische Gedankengut fördern. Unterstützt wird dieses Anliegen vor allem von den kirchlichen Jugendorganisationen.228 Der Benediktiner Lambert Beauduin, dessen Vortrag den zentralen Impuls für die weitere Entwicklung der Liturgischen Bewegung geben wird, war vor seinem Eintritt in den Orden als Diözesanpriester eng mit den Sozial- und Jugendbewegungen verbunden.229 Sein Vortrag reflektiert das Verhältnis von Liturgie und Apostolat: Die Teilhabe am in der Liturgie gefeierten Erlösungswerk Christi, verstanden als wirkliche, innere Teilhabe („participatio“), ist die Grundlage für ein apostolisches Leben und für das soziale Engagement. Im Bild des „Leibes Christi“ gesprochen, setzt die äußere Tätigkeit des Leibes das innere Leben voraus. Die Liturgie hat für Beauduin demnach eine klar definierte Aufgabe für das christliche Leben: Sie bildet den Ort, an dem die geistliche und sakramentale Verbindung der christlichen Gemeinschaft mit Christus selbst erfahren und von dort in die konkrete Praxis übersetzt werden kann.230 Der Impuls Beauduins wirkt nach. Im Anschluss an den Mechelener Kongress kommt es in verschiedenen Konferenzen zur Diskussion und intensiven Beschäftigung mit den Fragen der Liturgie. Auf diese Weise erreicht das Interesse an der Liturgie auch die späteren deutschen Zentren der Liturgischen Bewegung, etwa die Klöster Maria Laach und Beuron.231 Die zentrale Fragestellung lautet: Was kann dabei helfen, die Liturgie als geistlichen und gemeinschaftlichen Erfahrungsraum zu erschließen? Wie kann die von Beauduin geforderte „participatio“ am in der Liturgie gefeierten Erlösungswerk Christi ermöglicht werden? Die verschiedenen Ansätze z.B. der Volksmessbücher, der Bet-Sing-Messen, die Einfügung von dialogischen Anteilen in der Eucharistiefeier können an dieser Stelle nicht näher vorgestellt zu werden.232 Entscheidend ist, den Grundimpuls der Liturgischen Bewegung wahrzunehmen: Es geht um die gemeinschaftliche Kirchenerfahrung, die in einem inneren Erleben und Mitvollzug der Liturgie gegeben ist. Das Kirchenbild des „mystischen Leibes Christi“, auch in seiner eucharistischen Deutung, und sein liturgischer Ausdruck gehören eng zusammen. Damit ist klar, dass die Liturgie, soll sie zur Stärkung des Apostolats der Laien dienen, deren Beteiligung und Anteilnahme („participatio“) ermöglichen muss. Die Liturgie ist nicht mehr allein Sache des Priesters, sondern Angelegenheit der gesamten Gemeinde. Die innere Dimension der Anteilhabe am Leib Christi vollzieht sich in der gottesdienstlichen Versammlung des „Volkes Gottes“.
Josef Andreas Jungmann (1889–1975), eine zentrale Gestalt der Liturgischen Bewegung vor und während des Konzils, bringt in einem Artikel von 1938233, der in einem Sammelband zum Gedenken Möhlers erscheint, eine Zeitdiagnose, die zugleich auf die enge Verbindung von Kirchenbild und Liturgie aufmerksam macht: In der heutigen Situation, so Jungmann, werde das bisherige Verständnis, nach dem die Liturgie vornehmlich eine Aufgabe des Klerus sei, deutlich in Frage gestellt (376). War das kirchliche Leben bislang vornehmlich individuell geprägt und stand die persönliche Frömmigkeit auch im Gottesdienst im Vordergrund, so äußert sich in der Jugend der „Hunger nach dem Lebendigen“ (378). Gegen einen einseitigen Intellektualismus geht es jetzt stärker um das nichtrationale Erfassen des Übernatürlichen (379). Die Kirche wird zur Heimat und zur Stätte der Geborgenheit: „Hier ist Gott nahe. Hier lebt Christus fort durch die Jahrhunderte“ (380). Die Kirche, insbesondere die Liturgie, ist der Ort des „Wir“, der Gemeinschaft (381): „Und dieses Wir bezeichnet nicht eine Summe von zufällig zusammengeratenen Menschen, sondern es wird näher bestimmt als Volk Gottes. Es ist seine Kirche: populus tuus, plebs tua, Ecclesia tua sancta“ (381). Die Kirche ist wesentlich „Gemeinschaft der Gläubigen“. Die „Kinder der Kirche“ tragen „das Leben Christi“ in sich. Aus diesem Grund wird „corpus Christi mysticum“ zum Leitwort einer ganzen Generation (382). Wenn man als Gemeinschaft „Leib Christi“ ist, muss sich dieser Anspruch auch in der gemeinschaftlichen Teilhabe der Gemeinde an der Liturgie ausdrücken können (382). Jungmann erinnert daher an die von Pius XI. in seiner Konstitution „Divini cultus“ eingeforderte „actuosa participatio“, zu der die Teilnehmer des Gottesdienstes, hier bezogen auf den Gesang, aufgefordert werden (382f).234