Volk Gottes. Georg Bergner
und „ecclesia“ so eng miteinander, dass sie für ihn „fast synonym zu gebrauchen sind“ (138). Da die „caritas“ allerdings als Ausweis der inneren geistlichen Zugehörigkeit zur Kirche verstanden wird, ist sie nur dem „wahren Volk Gottes“, einer kleineren Gruppe, den Heiligen, innerhalb der Kirche zuzuschreiben (138, 143). Augustinus unterscheidet also zwischen der äußerlichen „ecclesia catholica“, der Kirche der Menge, die in ihrer Zeichenhaftigkeit wahre Kirche ist und ihrem unsichtbaren kleinen Kern, der „ecclesia sancta“, die als pneumatische Liebesgemeinschaft, als eucharistisch gebildeter Leib Christi wahre Kirche ist (144f, 150, 156, 168). Das „signum“ Kirche erhält somit seine Eigenständigkeit gegenüber der „res significata“, der „unsichtbaren Christusgemeinde“(157f). Im biblischen Bild der Mutterschaft verdeutlicht Augustinus seinen Gedanken: So wie es in der Familie, etwa bei den biblischen Patriarchen, auch rechtmäßige Kinder gegeben hat, die von den Mägden geboren wurden, sind die wahren Kinder doch nur die der Ehefrau (142). Nicht jeder innerhalb der Kirche gehört ihr auch wirklich an. Schlechte Katholiken und Häretiker stehen im Grunde auf einer Stufe (142).
Ratzinger verweist auf die Parallele zur platonischen Weltsicht Augustins: Die Wahrheit muss innerhalb der Sichtbarkeit und des Scheins gesucht werden (146f, 152f). Der Aufstieg des Einzelnen zur Gemeinschaft mit Gott besteht nun nicht mehr im Streben nach Erkenntnis und Wahrheit, sondern im Streben nach Liebe. Sie ermöglicht ein neues Leben mit Gott und formt zugleich die kirchliche Gemeinschaft (150). Insofern wird die Kirche bei Augustinus heilsnotwendig, da sie die „Einheit letzten Ranges“ geworden ist, „ohne die das wahre Leben nicht gewonnen werden kann“ (151). Die platonische „Reinigung“ von der Sinnenwelt wird ebenfalls nicht mehr individualistisch, sondern als Reinigung der ganzen Kirche verstanden. Die „humilitas“, die für Augustinus zunächst Unterwerfung unter die kirchliche Autorität bedeutet hatte, wird nun zu einem „Sich-Beugen unter die eigene Schwäche“ (151). Augustinus greift mit der Betonung der Nichtidentität von innerer und äußerer Kirche zwar eine zu seiner Zeit gängige Argumentation auf, verfolgt jedoch hierbei das Ziel, gegen eine rein platonisierende Tendenz zur ungeschichtlichen Betrachtung ewiger Wahrheiten, die Notwendigkeit der (heils-)geschichtlichen Dimension der Kirche zu beweisen. Nur in der konkreten Kirche, die durch die alttestamentliche Verheißung vorgezeichnet wird, ist die wahre Kirche zu finden (152ff). Durch die Trennung von der sichtbaren Kirchengemeinschaft wird der Donatismus dann notwendigerweise zur Häresie (155).
Belegt man den doppelten Kirchenbegriff Augustins mit den entsprechenden biblischen Leitbegriffen, wird durch Ratzingers Darstellung schon an dieser Stelle deutlich, dass die Kirche als „Leib Christi“ bei Augustinus nur unter der Voraussetzung der äußerlich sichtbaren Kirche als „Volk Gottes“ ihren Ausdruck findet. Beiden Begriffen wendet sich Ratzinger auch mit Blick auf Augustins Spätwerk „De civitate Dei“, das zugleich als Auseinandersetzung mit dem Heidentum gelesen werden kann, vertiefend zu.
Ratzinger beginnt dazu mit einer Betrachtung zur Gemeinschaft des Gottesvolkes. Gegen die Donatisten gewendet wird deutlich, dass „Volk“ nicht einfachhin ein Sammelbegriff für die „Laien“ sein kann, auch wenn sich Augustinus dieser Zuschreibung zuweilen bedient (168). Das Volk steht vielmehr gemeinsam mit seinem Bischof vor Jesus Christus, der allein Mittler des Heiles ist und damit die Rolle des Hohenpriesters einnimmt (160–167).135 „Volk“ ist somit Ausdruck für die gesamte in weltweiter Eucharistiegemeinschaft verbundene Gemeinschaft der Gläubigen (160f). Augustinus verwendet den Ausdruck „Volk“ mit Bezug auf das Gottesvolk des Alten Testaments zunächst als profanen Sachbegriff. Allerdings weist das alttestamentliche Volk bereits bildhaft auf das Kommende hin. Erst die in Christus erlöste Gemeinschaft ist als das wahre „pneumatische“ Gottesvolk zu bestimmen (167f). Da dieses, wie gesehen, nur innerhalb der konkreten Kirchengemeinschaft der Sünder zu finden ist, verweist die Bezeichnung „Volk Gottes“ auf ihre noch ausstehende Vollendung. Erstere ist ein notwendig gegebener Status, unter dem das wahre Gottesvolk in dieser Welt besteht (169).
Der zweite Zentralbegriff, „Haus Gottes“, so ein Ergebnis von Ratzingers Studie, wird von Augustinus nicht als eigenständiger theologischer Topos verwendet (175, 323f). Augustinus deutet das „Haus“ entweder im Sinne der Einwohnung Gottes im Menschen, dessen Tempel der Leib ist, als den auf Christus gegründeten Bau der Kirche136 oder als die liebesgewirkte kirchliche Gemeinschaft (178–183). Es lassen sich sowohl die Gemeinschaft des „Volkes Gottes“, als auch die innerliche Vereinigung der Gläubigen mit Christus im „Leib Christi“ aus dem Bild des „Hauses“ ableiten.137 Ratzinger schreibt: „Haus Gottes meint dies innere Einssein im Christusgeiste, das freilich nicht wird ohne das Einssein im Christusleibe“ (184).
Das tiefere Verständnis von der Kirche als „Leib Christi“ äußert sich in besonderer Weise in der Auseinandersetzung Augustins mit den Heiden, besonders in „De civitate Dei“. Augustinus, so Ratzinger, setzt zunächst den heidnischen Staat und seine Götterwelt dem himmlischen, durch die wahre Liebe in Einheit mit Gott gebildeten Gottesstaat entgegen (191).138 Da die Menschen durch die Sünde den Zugang zu Gott verloren haben, bedarf es eines Mittlers, mit dem sie in einer Kultgemeinschaft verbunden sind, um wieder zu Gott zu gelangen (190–195). Auf dem Weg dorthin liegt der Zwischenraum der Engel und Dämonen. Weil letztere für den wahren Kult nicht in Frage kommen können, da sie den Weg zu Gott verschließen und die Menschen von ihm entfernen wollen, muss der wahre Mittler zwischen den Bereichen stehen und als Gottmensch den wahren Kult und mit ihm die wahre Gemeinschaft mit Gott ermöglichen. Christus, der sich so weit erniedrigt, dass er selbst zum Opfer wird, öffnet den Zugang zu Gott neu (195ff).139 Diese Bewegung Gottes auf die Menschheit zu ist notwendig. In ihr nimmt Gott die Menschheit wieder neu an. Christus trägt die zu ihm gehörende Menschheit in seinem Leib, der Kirche, bereits mit sich ans Kreuz (206, 232f, 244). Die notwendige Einigung mit Christus geschieht im Glauben und bewirkt die Mitteilung seines Geistes, der die „caritas“ hervorbringt (209f, 228f). Der Weg der Einigung mit Christus vollzieht sich nicht individuell, sondern durch das Eingehen in seinen Leib, die Kirche.140 Wo der Leib Christi ist, ist auch sein Geist. Dabei ist, so Ratzinger, der Begriff „Leib Christi“ für Augustinus nicht mystisch, sondern konkret gemeint (324f). Kennzeichen der Gemeinschaft der Kirche ist die eucharistische Gemeinschaft (211, 241ff). Die Teilhabe am Sakrament („sacramentum corporis Christi“) bewirkt die Teilhabe an der Kirche („corpus Christi“) und somit auch am Geist Christi („caritas“) (211). Der Leib Christi ist die sichtbare „ecclesia“, die die Eucharistie feiert. Hierin liegt laut Ratzinger „der eigentlich sachliche Kern von Augustins Kirchenbegriff“ (325). Die Gemeinschaft der Kirche weilt zur Zeit noch in der Fremde der Welt, besteht im „Zelt des Christusleibes“ (239), schreitet Gott aber durch die zunehmende Einheit in der Liebe entgegen (230f). Der vollendete „Leib Christi“ ist der Gottesstaat (215f).141
In einem weiteren Schritt untersucht Ratzinger den Zusammenhang von Volk und Staat im augustinischen Spätwerk. Zunächst stellt er fest, dass im antiken Kontext die „civitas“ immer auch als religiöser Begriff verstanden wird. Die Religion ist „Formalobjekt“ (256) der Gesellschaft. Das soziale Gebilde der Stadt ist Ausdruck der Religion der Gesellschaft (265f). Das Volk, „populus“, wird im römisch-juristischen Sinn als herausgehoben angesehen und kann, so Ratzinger, in Absetzung von den Heidenvölkern, den „populi“, als Heilsgemeinschaft verstanden werden (258, 260). Augustinus entleiht in seinem Spätwerk das Verständnis von „civitas“ neben der alttestamentlichen Tradition (Jerusalem-Babylon als Gegensätze im Grundaufbau von „De civitate Dei“) dem römischen Verständnis. Die „civitas“ ist die „res populi“ (263f, 325). Staat und Volk sind wesentlich identisch (294).142 Die Religion ist Angelegenheit des Staates. Die Spätantike unterscheidet, so Ratzinger, die mystische Religion der Poeten und des einfachen Volkes, die sich in den Göttererzählungen und im Theater niederschlägt, die staatliche Religion des öffentlichen Kultes und die natürliche Religion der Philosophen, die nach tieferer Erkenntnis strebt (269). Während erstgenannte Formen menschengemacht sind und sich auf den Kult beschränken, ohne nach dem höheren Wissen von Gott zu streben, hat die natürliche Religion zwar ein Wissen von der Gottheit, aber keinen Kult (271). Augustinus geht es um eine Verbindung der „Religionsmodi“. Die natürliche Religion muss mit der richtigen kultischen Verehrung Gottes verbunden werden (271ff).
In