Volk Gottes. Georg Bergner
zu den Voraussetzungen einer neuen Ekklesiologie beobachtet Koster im dritten Teil seiner Schrift Bewegungen, die zu einer in seinem Sinne theologischen Neubestimmung der Kirche führen können. Dabei erkennt er in der zeitgenössischen Forschung drei wesentliche „Erscheinungen“.
Die erste Erscheinung ist das Vorhandensein verschiedener Ansätze zur theologischen Wesensbestimmung der Kirche (100), die sich in der theologischen Debatte der Zeit in vier Grundformen finden: Eine erste, radikale Position besteht dabei in der Ablehnung eines solchen Unterfangens aufgrund der prinzipiellen Unmöglichkeit, ein Mysterium in einem formalen Begriff zu fassen (101). Koster weist eine solche Position unter Eingeständnis der analogen Sprechweise für alle theologischen Aussagen zurück. Die hier geäußerte Sichtweise der Kirche als reinem Mysterium entspricht nicht ihrem Wesen. Nach Kosters Meinung wird an dieser Stelle die eben auch konkrete Kirche in ihrer Geheimnishaftigkeit mit Christus bzw. dem göttlichen Geheimnis gleichgesetzt (103ff). Eine zweite Position wird von Koster als „theologischer Agnostizismus“ bezeichnet. Hier wird die Kirche ebenfalls als so geheimnishaft angesehen, dass die biblische, bildliche Sprache nicht an das eigentliche Mysterium heranreicht (105). Die Bestimmung der Kirche bleibt somit bei Bildern oder „Analogaten“ und damit in einem vortheologischen Stadium stehen (106). Höchster Ausdruck der Analogie ist dann der „Leib Christi“-Begriff, der als Ersatz für eine fehlende Wesensdefinition genommen wird (107). Koster wendet sich gegen die Beschränkung auf eine reine Begriffssammlung, die sich aus der Bibel und der Vätertheologie speist (107). Abgesehen davon, dass Kirchenväterzitate nicht wie in einem Parlament versammelt werden können, um in ihren Aussagen mehr Gewicht zu geben, gilt auch für diese frühen Theologen der Maßstab der lehramtlichen Verkündigung (108f). Auch die Väter müssen nach ihrer theologischen Argumentation beurteilt werden, nicht nach ihrer persönlichen Autorität oder Heiligkeit (109ff). Ebenso wendet sich Koster gegen eine Lesart, die verschiedene Begriffe dialektisch miteinander in Beziehung setzt, ohne jedoch eine Entscheidung zur Auffindung eines umfassenden Verständnisses der Kirche zu treffen (112). Eine weitere Fehlform besteht in der schnellen Synthetisierung der verschiedenen Metaphern zur Beschreibung der Kirche unter den Begriff „Leib Christi“ (113).
Der dritte Ansatz besteht in einer Festlegung auf den Begriff des „Leibes Christi“ als umfassende Wesensbestimmung der Kirche (114). Gegen diese Sichtweise hatte Koster im ersten Teil seiner Streitschrift bereits zahlreiche Gründe angeführt. Er betont noch einmal die Einseitigkeit und die schwierige Geschichte des Begriffs (117) und verweist auf die Häufigkeit des „Volk Gottes“- Begriffs im biblischen, lehramtlichen und liturgischen Zeugnis der Kirche (115). Gegen das Theologenschema zur Kirchenkonstitution des I. Vatikanischen Konzils weist Koster darauf hin, dass es sich bei „Leib Christi“ keineswegs um die häufigste und genaueste Bezeichnung für die Kirche handelt (114f). Aus einer ursprünglichen Beschreibung der Kirche sei, so Koster, mittlerweile ihre Wesensbestimmung geworden (116, 122). Zahlreiche Bischöfe hätten daher noch auf dem Konzil gegen eine solche Verwendung des Begriffes eingewandt, dass in ihm die sichtbare Seite der Kirche zugunsten der mystischen Seite nahezu verschwinden würde (116). Koster weist zudem auf die Wandlungen hin, die der Begriff im Laufe der Kirchengschichte genommen hat, und dessen genaue Bedeutung wieder in die Diskussion geraten ist (117f). „Leib Christi“ nimmt in der aktuelle Verwendung eher ein emotionales Verständnis der Kirche auf. Koster beobachtet zudem, dass der Begriff in seiner Unschärfe zu allen möglichen Zwecken für oder gegen die Kirche verwendet wird. Er verkommt zu einem Schlagwort, das sowohl den Verteidigern der Kirche als auch ihren Kritikern dient (118f).81 Auch aus diesem Grund erweist sich „Leib Christi“ zur Wesensbestimmung der Kirche als untauglich (119) und erscheint weniger als Frucht nüchterner theologischer Überlegung denn als reine „Festsetzung“ (121f).
Die vierte von Koster angeführte Position hält eine theologische Wesensbestimmung der Kirche für möglich. Mit Berufung auf einen Artikel von Johannes Brinktrine82 nennt Koster die dort vorgelegten Ansatzpunkte, die Kirche von der Taufe, von den „notae ecclesiae“ und den kirchlichen Funktionen und Tätigkeiten her zu verstehen. Zugleich sieht er dieses Vorgehen noch als defizitär an. Am Beginn jeder Ekklesiologie muss die Bestimmung des Wesens der Kirche stehen (123f).
Die zweite der von Koster ausgemachten Erscheinungen der zeitgenössischen Ekklesiologie ist die „Stoffverkürzung“. Er diagnostiziert eine Verengung der Ekklesiologie auf bestimmte Spezialfragen und Einzelbetrachtungen, die häufig mit der Rede vom „Leib Christi“ zusammenhängen (129f). Allzu sehr fehlt Koster die Berücksichtigung der gemeinschaftlichen, sowie der ordnungsmäßigen, äußeren Seite der Kirche (126f). Hier geht es dem Autor weniger um die Beschreibung einzelner Bestandteile kirchlichen Handelns, als um eine Gesamtsicht der Kirche, die sich aus der Begnadung und Befähigung der handelnden Personen in ihren „Charakteren und Charismen“(127)83 heraus konstituiert. Die defizitäre Behandlung dieser Grundlage für das Leben der Kirche ist ein Versäumnis der von Koster angeprangerten „Ideologie des begnadeten Einzelmenschen“ in der zeitgenössischen Ekklesiologie (132). Es wird nicht gesehen, „wie die Kirche zuallererst die Gemeinschaft für den sozialen unveränderlichen Kult des Priestertums Christi ist, der erst in Hinsicht auf den Einzelnen und unter der Voraussetzung der rechten sittlichen Disposition beim ihm heilsvermittelnd sein kann, aber nicht muss“ (132). Dabei ist mit Blick auf die lehramtlichen Verlautbarungen der Gemeinschafts- und Volkscharakter der Kirche in besonderer Weise betont (128f).
Die dritte Erscheinung sind für Koster die methodischen Mängel. Seiner Ansicht nach wird die Ekklesiologie seiner Tage hauptsächlich von seelsorglich aktiven Priestern getragen, die von einem hohen kirchlichen, aber eher anti-institutionellen und anti-scholastischen Standpunkt aus ihre Gedanken zur Kirche entwickeln (135). Weniger die Theologie, als vielmehr die Liturgie als aktives Tun der Kirche steht dabei im Vordergrund, so dass das vertiefte Nahdenken über Wesen und Grundlagen der Kirche in den Hintergrund tritt (136ff). Koster sieht hier einen eher seelsorglich-aktivistischen Zug der Ekklesiologie, gegenüber dem eine „kontemplative“ Betrachtung zurücksteht (141). Er schreibt: „Hier an diesem Punkte stoßen zwei Grundanschauungen und zwei Grundaffekte aufeinander: der neuplatonisch-augustinisch-personalistische und der biblisch-kollektiv-sozial-kritische […]“ (140).
Im Ergebnis konstatiert Koster, dass eine eigentliche Ekklesiologie im Rückgriff auf die kirchliche Tradition noch aussteht (142). Hierzu gehört methodisch ein Ausgehen von der zeitgemäßen „ordentlichen“ Verkündigung, d.h. für Koster von den offiziellen Texten der Liturgie, in denen der Begriff des „Volkes Gottes“ die häufigste Bezeichnung für die Kirche ist (143). Dieser Begriff zeigt das Geheimnis der Kirche „in der deutlichsten und bildlosesten Fassung“ (143). Koster erkennt in ihm einen Sachbegriff und mehr als ein bloßes Bild, wie er es in der meist einseitig augustinisch gelesenen „Leib Christi“-Theologie seiner Zeit findet (145). Daher ist bei einer Neubeschreibung der Ekklesiologie unbedingt vom Begriff „Volk Gottes“ auszugehen (145, 148). „‚Volk Gottes‘ bringt aus sich und sofort die Kirche als Gemeinschaft zum Bewusstsein“ (146) und damit die menschliche Dimension. Zudem orientiert sich die Bezeichnung heilsgeschichtlich am „Volk Gottes“ des Alten Testamentes und ist von dort her schon legitimiert (146f). Diese heilsgeschichtliche Analogie wird Kosters Ansicht nach in der zeitgenössischen Theologie zu häufig übersehen (151). Koster hat somit den theologischen Grundbegriff gefunden, von dem her alle anderen analogen, bildhaften Aussagen über die Kirche ihren Ausgangspunkt nehmen müssen (147f). Es gibt nichts, was diesem Begriff vorausliegt (152). Die anderen biblischen Bezeichnungen wie „Familie Gottes“, „Leib Christi“ oder „Braut Christi“ müssen von diesem Leitbegriff, und damit vom Einbezug der gemeinschaftlichen Dimension der Kirche her bestimmt werden (141). Die Kirche ist keine übernatürliche Person, kein Christuskörper, sondern eine übernatürlich bewirkte Körperschaft (150). Im Begriff der „Braut Christi“ kommt die personal Verschiedenheit Christi und seiner Kirche in besonderer Weise zum Ausdruck (151). Die Kirche ist „freierwähltes, personenhaftes, messianisch-priesterlich beschenktes Werkzeug in Dienst des Heilswirkens Christi“ (151) und zudem erstes Ergebnis seines Heilswirkens (151).
Ist „Volk Gottes“ der Ausgangspunkt einer neuen Ekklesiologie, so ist das Ziel der „theologische Begriff“ der Kirche. „Volk Gottes“ und theologischer Begriff sind nicht notwendigerweise identisch (156).
Fasst