Volk Gottes. Georg Bergner
und Juan Carlos Scannone die vielfältige Rezeption des „Volk Gottes“-Begriffs in der Befreiungstheologie (5.2). Das kircheninterne Ringen um diese theologische Strömung und ihre Ekklesiologie stellt das UnterKapitel 5.3 dar.
Ein gänzlich anderes, weil hauptsächlich im innertheologischen Diskurs verankertes Thema beleuchtet das sechste Kapitel. Es behandelt die im jüdisch-christlichen Dialog aufgekommene Frage nach der Berechtigung von „Volk Gottes“ als Kirchenbegriff. Insbesondere die durch Erich Zenger und Norbert Lohfink vertretene „Ein-Bund-Theorie“ wirft die Frage nach dem Verhältnis von Israel und der Kirche und der Verwendung des „Volk Gottes“-Titels in den 1990er Jahren neu auf (6.2). Mehrere exemplarisch ausgewählte Stellungnahmen zu diesem Thema verdeutlichen die Komplexität und die Schwierigkeit der angemessenen Verhältnisbestimmung (6.3).
Das siebte Kapitel markiert den Übergang zwischen der ersten Rezeptionsphase und den aktuellen Perspektiven für den „Volk Gottes“-Begriff. Es behandelt dessen Krise, die in der Bischofssynode von 1985 Auslöser für eine Neubewertung der konziliaren Ekklesiologie unter den Stichworten „Mysterium“ und „communio“ wird (7.1). Anhand von vier ekklesiologischen Gesamtentwürfen (Walter Kasper, Joseph Ratzinger, Bruno Forte, Medard Kehl) wird gezeigt, welche Bedeutung dem „Volk Gottes“-Begriff unter dem neuen paradigmatischen Leitwort „communio“ zugemessen wird (7.2). Abschließend gilt es zu bewerten, inwiefern „Volk Gottes“ weiterhin als ekklesiologischer Leitbegriff seine Bedeutung behält (7.3).
Das erste aktuelle Beispiel, das auf eine Neubewertung und Wiederkehr von „Volk Gottes“ hinweist, ist die in Deutschland seit ca. 2005 mit zunehmender Intensität geführte Diskussion um eine Neuausrichtung der kirchlichen Pastoral. Das achte Kapitel zeigt dazu anhand maßgeblicher pastoraltheologischer Positionen die Ansätze zu einer vertieften „Volk Gottes“-Ekklesiogie auf (8.2).
Das zweite Beispiel ist die durch das „Volk Gottes“-Verständnis geprägte Ekklesiologie Papst Franziskus’, wie das neunte Kapitel verdeutlicht.
Grenzen der Arbeit und formale Hinweise
Die Darstellung von fast 100 Jahren theologischen Diskurses stößt im Rahmen einer Dissertationsschrift notwendigerweise an Grenzen. Dies betrifft vor allem die exemplarisch auszuwählenden Themen und die verwendete Literatur. In beiden Fällen ist versucht worden, einen repräsentativen Querschnitt durch die Bandbreite theologischer Ansätze anzubieten, der sich vor allem an den „großen Namen“ der katholischen Theologie orientiert. Weitere Einschränkungen zur Eingrenzung des Themas sind die folgenden: Die vorliegende Arbeit konzentriert sich weitgehend auf den Bereich der katholischen Ekklesiologie. Die Bedeutung der „Volk Gottes“-Thematik in der protestantischen Theologie hat etwa Max Keller in einer umfangreichen Studie deutlich gemacht.3 Eine Ausnahme von dieser konfessionellen Beschränkung bildet das sechste Kapitel, da aufgrund der engen ökumenischen Zusammenarbeit im jüdisch-christlichen Dialog und in der Exegese eine Trennung nach Konfessionen künstlich gewesen wäre. Unbestritten ist, dass etwa Yves Congar aus der ökumenischen Diskussion wichtige Impulse für seine Ekklesiologie empfangen hat. Dies führt zu einer weiteren Beschränkung: Die vorliegende Studie beginnt mit dem Aufbruch der neueren systematischen Ekklesiologie nach dem Ersten Weltkrieg. Auch diese ist wiederum nicht voraussetzungslos. Auf den Einfluss der Tübinger Schule, der möglicherweise über Lucio Gera bis zu Papst Franziskus reicht, kann nur ganz am Rande eingegangen werden. Auch ist deutlich, dass bestimmte ekklesiologische Denkfiguren des Zweiten Vatikanischen Konzils bereits bei den Modernisten des 19. Jahrhunderts frühe, häufig noch unausgereifte Vorläufer gehabt haben.4 Der These, das Zweite Vatikanum habe aufgrund dieser Tatsache durch eine modernistische Unterwanderung die kirchliche Tradition verlassen, wie sie von einigen Stimmen in den letzten Jahren vertreten wurde, kann nicht eigens nachgegangen werden.5 Die Darstellung der Entstehungsgeschichte von „Lumen gentium“ (Kap. 1 und 2) zeigt den theologischen Veränderungsprozess differenziert auf und sollte derartigen Theorien Vorschub leisten können.
Zum Abschluss noch einige formale Hinweise: Die vorliegende Arbeit ist nach den Maßgaben der neuen Rechtschreibung verfasst. Der besseren Lesbarkeit halber sind Zitate älterer Publikationen orthografisch angepasst worden. Aus dem gleichen Grund sind zudem im Haupttext (teilweise auch in den Fußnoten) fremdsprachige Zitate aus dem Italienischen, Französischen, Spanischen und Lateinischen weitgehend vom Verfasser übersetzt worden, ohne dass dies im Einzelnen jeweils ausgewiesen wird. Englische Zitate werden im Original wiedergegeben. Quellen werden mit Kurztiteln zitiert, ein Abkürzungsverzeichnis für kirchliche Dokumente und mehrfach zitierte Sammelwerke ist dem Literaturverzeichnis angefügt.
1 Vgl. VITALI, Popolo di Dio, 193–201.
2 Die eingefügten Ordnungsnummern in Klammern beziehen sich auf das jeweilige Unterkapitel der vorliegenden Arbeit.
3 Vgl. KELLER, „Volk Gottes“ als Kirchenbegriff.
4 Für einen Überblick s. NEUNER, Der Streit um den katholischen Modernismus.
5 S. hierzu z.B. MATTEI, Das Zweite Vatikanische Konzil – Eine bislang ungeschriebene Geschichte, Ruppichteroth 2011.
I. Hauptteil: „Volk Gottes“ als zentraler Begriff im Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils
1. Der „Volk Gottes“-Begriff im ekklesiologischen Aufbruch des 20. Jahrhunderts
1.1 Mannes Koster: „Ekklesiologie im Werden“
Es gehört zur Aufgabe der Theologie, „dass sie dort Wege zeigt, wo noch keiner sie sieht, und sie dort sieht, wo noch keiner sie geht“6. Mit diesen Worten würdigen Hans-Dieter Langer und Otto Hermann Pesch die theologische Streitschrift „Ekklesiologie im Werden“, die Mannes Dominikus Koster, Dozent für systematische Theologie an der Dominikanerhochschule in Walberberg7, im Jahr 1940 herausgegeben hatte. In ihr verdeutliche sich, so Langer und Pesch, jene Problematik, „welche sich historisch einmal mit dem Emporkommen und der geistigen Kraftentfaltung eines Verständnisses von ‚Volk Gottes‘ verband […]“8. Dieser 1971 aus der Rückschau geschriebene Satz zeigt die zwischenzeitlich eingetretene theologische Wende an. Während „Volk Gottes“ als Kern- oder Leitbegriff einer zeitgemäßen Ekklesiologie bereits wenige Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil voll etabliert war, hatte sich Koster für diese Etablierung aus der Position des Außenseiters heraus eingesetzt. Zum besseren Verständnis seines Beitrages ist ein Blick in den Kontext, die theologische Debatte um Katholizität und Kirche zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Ekklesiologie im Werden“ hilfreich.
1.1.1 Kosters Schrift im Kontext ihrer Zeit
Das Lebensgefühl und Denken, das die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bestimmt, hat Erich Przywara durch fünf grundlegende Bewegungen gekennzeichnet: 1. vom Subjekt zum Objekt, 2. vom Individuum zur Gemeinschaft, 3. vom reinen Denken zur Natur, 4. von der Kultur zur Religion, 5. von der Innerlichkeit zur Kirche.9 Gegen das als blutleer empfundene Erbe der späten Aufklärung, ihrer Konzentration auf das denkende Individuum und die Begeisterung für den technischen Fortschritt, setzt die junge Generation ein neues Gemeinschaftsgefühl.10 Besonders die philosophische Kategorie des „Lebens“ wird, ausgelöst von der Rezeption Nietzsches, begeistert aufgenommen. „Leben“ artikuliert die Sehnsucht nach dem organischen und lebendigen Zusammenhang der Wirklichkeit.11 In der seit den zwanziger Jahren aufkommenden Jugendbewegung verbindet sich dieser Gedanke mit dem Bedürfnis nach gemeinschaftlichem, häufig pantheistisch-religiösem, schwärmerischem Erleben der Natur.12 Die Phänomenologie als neu aufkommende philosophische Schule stellt das Individuum dem Objektiven, allzeit Wahren und Verbindlichen, zugleich Transzendenten und Geheimnishaften gegenüber.13 Ein Interesse an der Mystik, am Empfinden, an der Teilhabe am Lebensvollzug durch eigenes Erleben erwacht. Demgegenüber erscheinen die abstrakte Theorie, die rationale Begrifflichkeit, wie auch alle äußere Organisation als Widerspruch gegen das Geheimnishafte, Unaussprechliche und Allumfassende des Lebensprinzips.14
Kirchlich findet dieses Grundgefühl der Zeit in verschiedenen Bewegungen dankbare Aufnahme.15 Es kommt in der