Volk Gottes. Georg Bergner
mit Gott neu ermöglicht.63 Hieraus entsteht die Kirche als „mystischer Leib Christi“, in dem das „pneumatische Leben“ in Christus seinen angemessenen Ausdruck findet.64 Es kann für Congar keine Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche geben. Die Kirche ist wesenhaft „sakramental“65 und verbindet so das innerlich-gemeinschaftliche und äußerlich-gesellschaftliche Leben der Kirche zu einer einzigen komplexen Wirklichkeit.66
Erich Przywara legt im gleichen Jahr eine Übersicht über die umfangreichen Veröffentlichungen vor, die das „Corpus Christi Mysticum“ behandeln. In seiner Bilanz hebt auch er die Notwendigkeit der Überwindung des Dualismus’ von Innen und Außen, Transzendenz und Immanenz in der Betrachtung der Kirche als „Leib Christi“ hervor und sieht die Gefahr einer pneumatischen Verengung.67 Die Kirche ist für Przywara „werkzeugliche Repräsentation und repräsentierende Werkzeuglichkeit“68 Gottes. Der unendliche Abstand zwischen Gott und der Kirche bewirkt, dass sich die Kirche nicht anders zu Gott verhalten kann als die menschliche Natur Christi zu ihrer göttlichen. Sie dient Gott dazu, durch die Sendung der Gläubigen in die Welt hinein zu wirken.69 Für diesen Dienst bildet die Kirche ihre innerweltliche Wirkweise in Leben und Dienst der Gläubigen, in Lehre, Amt und Rechtsordnung aus.70 Bei Przywara kündigt sich so die kommende Bedeutung des Begriffs „Sakrament“ an, ein Begriff, der für ihn in der Lage ist, eine Synthese zwischen der unsichtbar-gnadenhaften Seite der Kirche und ihrer sichtbargesellschaftlichen Dimension zu schaffen. Dabei bedient sich Przywara der Analogie des inkarnatorischen Geschehens und der beiden Naturen Christi.71
Die hier nur kurz vorgestellten Entwürfe des Jahres 1940 geben einen Eindruck in das geistige Umfeld, in dem Kosters Beitrag zu verorten ist. Im Zuge des Ringens um einen Neuansatz der systematischen Ekklesiologie versteht er seine Schrift „Ekklesiologie im Werden“ als einen Diskussionsbeitrag zur aktuellen Debatte.72 So findet sich bei ihm neben der kritischen Bewertung der zeitgenössischen Theologie des „corpus Christi mysticum“ ein eigenständiger und origineller Ansatz durch die Einführung eines neuen ekklesiologischen Zentralbegriffes, nämlich „Volk Gottes“.73
1.1.2 „Ekklesiologie im Werden“
Kosters Werk „Ekklesiologie im Werden“ versucht, einen neuen Weg zu einer systematischen Ekklesiologie zu bahnen. Dies ist laut Koster notwendig um den Status einer „vortheologischen Kenntnis der Kirche“74 zu überwinden, die er in den zahlreichen seelsorglich und geistlich motivierten Aktivitäten und Schriften etwa der Jugendbewegung, wie auch der Liturgischen Bewegung vorfindet. Die Ekklesiologie, zeitgenössisch als Sehnsucht zu einem umfassenderen Begriff und einer tieferen Erkenntnis der Kirche zu verstehen, ist, so Koster, derzeit im „Werden“ (154f). Die von Koster als Vorstadien zu einer theologischen Neubestimmung gekennzeichneten geschichtlichen Entwicklungen sind seiner Ansicht nach auf drei wesentliche Begriffe zurückzuführen, die dem jeweils zeitgemäßen Verständnis der Kirche dienen sollen: die Kirche „in ihrer Rechtsordnung“, wie sie in der neuscholastischen, apologetischen Ekklesiologie zu finden ist, die Kirche als „Leib Christi“ und als „Kultgemeinschaft“(12). Mit diesen Begriffen verbinden sich für Koster bestimmte Vorstellungen. Hinter der Kirche in der Rechtsordnung verbirgt sich der Begriff des „Volkes Gottes“, hinter „Leib Christi“ die Idee des „Organismus“, welche jedoch den zumeist im Verbund mit der „Leib Christ“-Theologie anzutreffenden „verhüllten Solidarismus“ nur scheinbar verdeckt (12). Damit verbunden steht hinter der „Kultgemeinschaft“ ein „liturgischer Solidarismus“ (13). Auf der Suche nach einem umfassenden theologischen Begriff der Kirche habe die Theologie bisher, so Kosters Kritik, zumeist oder sogar ausschließlich auf den „Leib Christi“-Begriff zurückgegriffen. Er sieht hierin eine fälschliche Ineinssetzung einer vortheologischen Vorstellung der Kirche mit dem Begriff, der theologischen Definition der Kirche in ihrer Gesamtheit (14). Von dort aus stellt Koster der Theologie seiner Zeit ein schlechtes Zeugnis aus: „Die Ekklesiologie unserer Tage befindet sich noch im vortheologischen Zustand“ (15).75 Sie wählt einen Teil der kirchlichen Glaubensanschauung, des Glaubensschatzes, zur Bestimmung der Kirche als Ganze aus (18).76 Diese Entwicklung hat laut Koster ihren Ursprung in der vornehmlich apologetisch geprägten Ausrichtung früherer Ekklesiologien. Die Kirche wird gegen ihre Kritiker in Schutz genommen und Einzelaspekte besonders betont (24f, 26f). Ziel einer theologischen Neubestimmung wäre jedoch die Erfassung der Totalität der Kirche aus dem Gesamt des Glaubensschatzes (16), sprich, die Suche nach einem Begriff, der das Gesamt der kirchlichen Wirklichkeit angemessen und umfassend wiedergeben könnte (18, 31). Diese Suche liegt, so Koster, angesichts des fortschreitenden Bedürfnisses aller Teile der Kirche zur Bewusstwerdung ihrer selbst gewissermaßen in der Luft (85, 89). Wie also lässt sich der „Gemeinschaftscharakter“ der Kirche theologisch umfassend bestimmen? Wie kann die Kirche als eine „konkrete, wirkliche, im Diesseits stehende und doch nicht in ihm beheimatete Gemeinschaft“ (25f) begriffen und verstanden werden? Vorarbeiten hierzu möchte Koster in seiner Schrift leisten (22, 153).
Zunächst widmet sich der Autor dabei der Analyse bestehender ekklesiologischer Ansätze. Er konstatiert eine nach dem 1. Weltkrieg vollzogene Entwicklung der Ekklesiologie, die sich von der apologetischen in eine vortheologische Richtung weiterentwickelt habe (26). Kennzeichen dafür ist zum einen die Neufassung des Kirchenrechts, in der eher der „Leitungskörper“ der Kirche seinen Ausdruck findet, zum anderen die Bestimmungen der Kirche als „Leib Christi“ und „Kultgemeinschaft“, die dem „Glaubenskörper“ der Kirche zuzurechnen sind (27, 30).
Die Rechtsordnung ist Ausdruck der konkreten kirchlichen Gemeinschaft. Sie ist das „Volk Gottes in seiner eigenen Ordnung“ (29) und verbindet menschliches und göttliches Tun in der positiven Setzung von Regelungen und Gesetzen. In der laut Koster häufig zu wenig wahrgenommenen Bedeutung des Kirchenrechts zeigt sich in besonderer Weise der „Volk Gottes“-Charakter der Kirche, da sich aus ihm die sichtbare Gemeinschaft der Gläubigen ihre Gestalt gibt (28ff.).
Deutliche Kritik übt Koster an der zeitgenössischen Leitmetapher des „Leibes Christi“, die häufig als Wesensbestimmung der Kirche angesehen wird. Vehement bestreitet er, dass von diesem Begriff aus eine wirkliche theologische Darlegung der Kirche erfolgen kann, „weil das der Ökonomie der Verkündigung von der Kirche, die nicht so einseitig auf ‚Leib Christi‘ begrenzt ist, wie man das in der Gegenwart wahrhaben will entgegen ist, und weil auch ‚Leib Christi‘ nicht die Sinngebung besitzt, die man unter dem eigenartigen Einfluss des Hl. Augustinus dieser Metapher zuschreibt“ (31f). Konkret bemängelt Koster, dass die übermäßige Konzentration auf den „Leib Christi“-Begriff zu einem Dualismus führt, in dem die mystische und die sichtbar-juridische Seite der Kirche unverbunden nebeneinander stehen (32).77 Es gilt daher, einen Begriff der Kirche zu finden, der „ihre Wesensgestalt in ihrem Ungeteiltsein umfasst und aus dem sich theologisch einwandfrei ableiten lässt, was immer der Kirche nach den Angaben des kirchlichen Lehrzeugnisses eigentümlich ist“ (34). So gleitet die Rede vom „Leib Christi“ in der zeitgenössischen Theologie Kosters Meinung nach zu stark in die Betonung der mystischen und damit übernatürlich-geheimnisvollen Seite ab und vernachlässige die simple Tatsache, dass ein Leib immer auch natürlich, d.h. konkret ist (35). Koster stellt mit Verweis auf die kirchliche, theologische wie liturgische Tradition heraus, dass diese in Bezug auf die Kirche ein weites und vielfältiges Verständnis entwickelt hat. So wird die Kirche in den Orationen des Messbuchs beispielsweise über fünfzigmal als „populus“ tituliert (37). Eine einseitige Aufnahme lediglich des „Leib Christi“-Begriffes ist für Koster von der Tradition her nicht zu rechtfertigen (38).
Ursächlich für das dominante Auftreten des Begriffes und dessen nach Kosters Ansicht einseitigen Interpretation ist das Kirchenverständnis Augustins (38f, 62).78 Während Paulus die Kirche als „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ nie getrennt von ihrer konkreten sozialen Gestalt versteht, bezieht Augustinus Koster zufolge „Leib Christi“ auf die Welt als Ganze in ihrer Bezogenheit auf Christus (39f). Weniger auf die Kirche als auf Christus ausgerichtet, wird hier die objektiv-hinreichende und subjektiv-wirksame Erlösung der „uneigentlichen Kirche“ (42), also der ganzen Menschheit beschrieben (40). Diese ist in der Menschwerdung bereits hypostatisch angenommen (56). Augustinus selbst ist in seiner Deutung, so Kosters Vermutung, von der