Volk Gottes. Georg Bergner
heraus ihren Glauben an die Götter schafft und diese kultisch verehrt (290), entsteht die „civitas Dei“ durch göttliche Initiative. Gott, der in die Geschichte eingeht, stiftet selbst den Glauben an ihn und bildet die Gemeinschaft der göttlichen Liebe („caritas“) (275, 288, 290). Im Kult bringt das Gottesvolk in der „civitas Dei“ nicht bestimmte Opfer dar, sondern versteht sich selbst als Opfer. Es wird so in Gott geeint und angenommen (294). Das Gottesvolk ist im Zustand der irdischen Unvollkommenheit und Pilgerschaft für Augustinus identisch mit der Kirche. In der Auseinandersetzung mit der römischen Stadt und der Staatsreligion bildet sich der Gedanke der Kirche als christliche „polis“ und damit als Volk aus (295, 324). Damit zeigt Ratzinger auch für den späten Augustinus das Vorhandensein des zentralen Begriffs des „Volkes Gottes“ als Grundbegriff für die Kirche auf.
Abschließend weist Ratzinger darauf hin, dass die von ihm dargestellten Leitbegriffe „Volk Gottes“ und „Leib Christi“ im Kirchenverständnis des Bischofs von Hippo als einander ergänzend gesehen werden müssen:
„Die Sonderart des Gottesvolkes, seine ‚differentia specifica‘ liegt im corpus-Christi-Begriff beschlossen. ‚Corpus Christi‘ drückt die Seinsweise, die innere Wirklichkeit dessen aus, was mit civitas und populus umgrenzt wird. Die Kirche ist eben das als Leib Christi bestehende Volk Gottes.“ (326f)
1.2.2 Auf dem Weg zum Zweiten Vatikanischen Konzil
Joseph Ratzingers Dissertation steht exemplarisch für eine Entwicklung, die durch ihre veränderte Fragestellung neue Ergebnisse für die systematische Erforschung des Wesens und Auftrags der Kirche hervorbringt. Gerade im Vergleich zur Untersuchung Fritz Hofmanns wird deutlich, wie sich der Horizont hinsichtlich der biblischen Leitbegriffe für die Ekklesiologie erweitert. Ratzinger, der in weiten Teilen zu ähnlichen Ergebnissen wie Hofmann gelangt, geht doch weit über ihn hinaus, indem er die Bedeutung des „Volkes Gottes“ als theologischen Leitgedanken im Werk Augustins herausarbeitet und diesen Gedanken als notwendige Ergänzung dem zentralen Bild vom „Leib Christi“ zur Seite stellt. Mit dem „Volk Gottes“-Begriff erhält die Wirklichkeit der heilsgeschichtlich verankerten, eschatologisch geöffneten und sakramental konstituierten Großgemeinschaft der Kirche ihren angemessenen Ausdruck. Erst innerhalb dieser Gemeinschaft kommt die durchaus ideal gedachte, eucharistisch gebildete innere Liebesgemeinschaft der Christen, die für Augustinus den Kerngedanken der Kirche bildet, zum Tragen.
Der Aufbruch zur vertieften ekklesiologischen Forschung betrifft, wie gesehen, unterschiedliche theologische Disziplinen. Die Impulse der exegetischen und patristischen Forschung, insbesondere hinsichtlich der verstärkten Zuwendung zum Begriff „Volk Gottes“ seit 1945 finden schnell Eingang in die systematische Theologie.143 Der Münchner Dogmatiker Michael Schmaus nimmt die „seit 1940 völlig verändert[e]“144 ekklesiologische Lage zum Anlass zur Neubearbeitung seiner „Katholischen Dogmatik“ und ordnet in deren zweitem Hauptabschnitt zum „gottmenschlichen Gepräge der Kirche“ ein erstes Kapitel zur „Kirche als Volk Gottes“ dem Kapitel zu „Leib Christi“ vor.145 Schmaus nimmt die Argumentation Kosters auf, wenn er den Vorzug des „Volk Gottes“-Begriffs mit dessen vorrangiger Verwendung in den liturgischen Texten als Teil der ordentlichen kirchlichen Lehrverkündigung begründet.146 Die exegetischen Forschungsergebnisse insbesondere von Dahl fließen in seine Darstellung ebenso ein147, wie eine ausführliche Würdigung Arbeit Ratzingers148 für den Bereich der Patristik.
Zum gleichen Zeitpunkt wird die Ekklesiologie zu einem Schwerpunktthema des ökumenischen Dialogs. Nachdem der Ökumenische Rat der Kirchen bereits in seiner ersten Vollversammlung in Amsterdam 1948 über die Natur der Kirche und ihren heilsgeschichtlichen Ort beraten hatte149, vertieft die Versammlung von Evanston 1954 den ekklesiologischen Diskurs unter dem Titel „Christus und sein Volk“. Dabei geht es um die heilsgeschichtliche Sicht des Christusereignisses und die Rolle der Gläubigen bei der Mitwirkung am Plan Gottes. Die Kirche wird als „Volk Gottes“ und zugleich Instrument Gottes in der Geschichte, sowie erste Verwirklichung des Reiches Gottes verstanden.150
Ohne den Überblick über die Rezeption des Begriffes „Volk Gottes“ in der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil an dieser Stelle ausführlicher fortsetzen zu können151, wird doch deutlich, dass sich dieses ekklesiologische Leitwort neben dem weiterhin beherrschenden Zentralbegriff „Leib Christi“152 zunehmend etabliert, so dass Valeske 1962 diesbezüglich von „einer neuen theologischen Mode“153 sprechen kann.154 Ob Kosters Beitrag zu dieser Entwicklung nun den alleinigen Anlass gegeben hat oder nicht, kann hier nicht abschließend bewertet werden.155 In jedem Fall findet sein energischer Zwischenruf zugunsten des „Volkes Gottes“ ein nachhaltiges Echo.156 Zusammen mit der ebenfalls weiter entwickelten Lehre von der Kirche als Sakrament157, deren Einfluss für die Kirchenkonstitution des Konzils maßgebend sein wird und vielleicht dem vom Koster erwarteten endgültigen „theologischen Begriff“ von der Kirche am nächsten kommt158, nimmt die „Ekklesiologie im Werden“ der Jahre 1940 bis 1964 zunehmend Gestalt an.
Die bisher dargestellte Entwicklung lässt sich kurzgefasst so zusammenfassen: Die in den Jugendbewegungen auf das innere Erleben des „Leibes Christi“ ausgelegte teilweise schwärmerische Begeisterung fordert die Theologie zu einer vertieften Reflexion über das Wesen der Kirche heraus. In dieser Auseinandersetzung, im Ringen um eine umfassende Beschreibung der Kirche, entstehen die zentralen ekklesiologischen Leitideen, die später auf dem Konzil ihre kirchenoffizielle Anerkennung finden werden. Joseph Ratzinger bietet dazu die folgende systematische Übersicht zum Aufbruch der vorkonziliaren Ekklesiologie an159:
Die Entdeckung des ekklesiologischen Paradigmas vom „mystischen Leib Christi“ bewirkt eine erneute christologische Fundierung der Kirche. Sie führt aus einer rein organisatorisch-hierarchischen Betrachtungsweise heraus. Mit der Betonung der Innerlichkeit, der gnadenhaftsakramentalen Dimension der Kirche, wird zugleich auch das Moment der christlichen Gemeinschaft als Konstitutivum des kirchlichen Lebens herausgestellt. Die Kirche ist immer ein „Wir“ (259ff).
Mit der „Leib Christi “-Ekklesiologie steigt die Aufmerksamkeit für die grundlegende Bedeutung der Eucharistiefeier als Herzstück des kirchlichen Handelns. Die Kirche ist dort, wo die Eucharistie gefeiert wird. Organisatorisch gewendet führt dies zu einem Nachdenken über das Ortsprinzip der Kirche. Die katholische Kirche ist dort in höchster Form verwirklicht, wo sie mit Christus im Sakrament verbunden ist (262–269).
Der „Leib Christi“-Gedanke birgt als alleiniger Kirchenbegriff gewisse Probleme, die theologisch bearbeitet werden müssen. Zum ersten klärt er das Innen/Außen-Verhältnis der Kirche nicht richtig. Bei aller Vertiefung des innerlich-gnadenhaften Aspekte der Kirche droht die äußerliche und gesellschaftliche Seite der Kirche vernachlässigt zu werden. Zum zweiten kann die Kirche als „Leib Christi“ zu stark mit Christus selbst identifiziert zu werden. Die Kirche wäre in einer übertriebenen Analogie gedacht so etwas wie der in der Geschichte fortlebende Christus. Es ist für die Ekklesiologie also notwendig, den Abstand zwischen Christus und der Kirche zu betonen, damit auch ihre geschichtliche, teilweise auch fehlbare Beschaffenheit und Wandelbarkeit. Zum dritten stellt sich das Problem der Gliedschaft. Wenn die katholische Kirche „Leib Christi“ ist und die Gliedschaft durch sakramentale und organisatorische Einbindung verwirklicht wird, gibt es für die Nicht-Katholiken keine Möglichkeit, an der Kirche zu partizipieren. Gerade unter dem ökumenischen Gesichtspunkt wird also eine ekklesiologische Grundlegung nötig, welche das Verhältnis zwischen Katholiken und Nicht-Katholiken angemessen zum Ausdruck bringen kann (269–272).
Gerade die zuletzt beschriebenen Defizite der „Leib Christi“-Ekklesiologie sind Anlass für die Suche nach alternativen Begriffen, um die kirchliche Realität zu beschreiben. Im Zuge der ab den 1940er Jahren einsetzenden theologischen Reflexion etablieren sich so die für das Konzil neben dem „Leib Christi“-Begriff prägenden kirchlichen Leitmetaphern, insbesondere „Sakrament“ und „Volk Gottes“. Zur Etablierung des „Volk Gottes“-Begriffs in der Diskussion des Konzils erweist sich neben den systematischen ekklesiologischen Neuansätzen eine zweite theologische Streitfrage der Nachkriegszeit als treibende Kraft. Hierzu ist ein Blick nach Frankreich und Belgien nötig, der zugleich