Der Herzenfresser. Josef Scherz
muss ich nachdenken!«
»Nachdenken?«, fragte sie und bekam feuchte Augen.
Er wandte sich ihr zu, strich ihr über die Wangen und die langen blonden Haare. »Du weißt doch, ich habe Frau und Kinder.«
Nun rollten dicke Tränen über ihr Gesicht. Dieser Anblick war unerträglich für ihn. Er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an seine Brust: »Beruhige dich doch. Ich verspreche dir, dass ich in Ruhe nachdenken werde, nach dem Fest. So, und jetzt zieh dich an und versprich mir, dass das hier unser kleines Geheimnis bleibt. Niemand darf davon erfahren.«
†††
Während in Turnau auch schon tagsüber gefeiert wurde, suchten nahe der kaiserlichen Hauptstadt Wien Johann Altmanner und seine schwangere Frau Rosa verzweifelt nach einem bestimmten Haus. Sie waren beide von ihrem langen Fußmarsch erschöpft, hungrig und durstig. Das wenige Hab und Gut, das ihnen gehörte, hatten sie in einem verschlissenen Rucksack verstaut, der jederzeit zu platzen drohte. Als sie schon aufgeben wollten, ratterte auf der staubigen Straße, irgendwo zwischen der Stadt und dem kaiserlichen Schloss Schönbrunn, eine prächtige Kutsche daher. Entschlossen stellte sich Altmanner mitten auf den Weg und brachte den Wagen abrupt zum Halten. Der höfisch uniformierte Kutscher ergriff seine Peitsche und schwang sie drohend: »Was fällt dir ein?! Aus dem Weg, oder du bekommst das hier zu spüren!«
Altmanner hob besänftigend seine Arme. »Ganz ruhig der Herr. Ich brauche nur eine Auskunft.«
Er hielt er einen Fetzen Papier hoch: »Ich suche ein Haus mit dieser Adresse?«
Der Kutscher überflog das Schreiben, lachte kurz auf und antwortete: »Brauchst dich nur umzudrehn, stehst direkt davor!«
Aus dem Inneren der Kutsche ertönte nun eine sonore Stimme: »Geben Sie diesen Bettlern eine Münze, und fahren Sie endlich weiter!«
»Sehr wohl Eure Exzellenz, aber ich habe keine Münze bei mir«, gab der Kutscher zurück.
Da beugte sich ein Mann im purpurnen Gewand eines Kirchenfürsten aus der Kutsche und musterte die beiden Gestalten auf der Straße mit scharfem Blick. Seine Augen blieben wohlwollend auf der schwangeren Rosa ruhen: »Na wenigstens belohnt der Herr euch armes Gesindel mit Fruchtbarkeit.«
Der Geistliche kramte in seinen Taschen herum und schnippte dann mit seiner behandschuhten Rechten, an der ein dicker Siegelring prangte, eine Münze auf den Boden. »Nehmt das als Zeichen meiner Barmherzigkeit, Gott sei mit euch!«
Dann gab er seinem Kutscher das Zeichen zur Weiterfahrt.
Rosa wollte sich schon bücken, doch Altmanner hielt sie zurück: »Lass gut sein! Alles, was uns noch geblieben ist, ist unsere Würde. Aber wenigstens wissen wir jetzt, dass wir hier richtig sind.«
Sie wandten sich dem gepflegten, einstöckigen Haus zu, das am ehesten an ein Herrenhaus erinnerte, wie sich die Leute auf dem Land gern ausdrückten. Die Fassade schimmerte in zartem Gelb, kunstvolle weiße Ornamente rahmten die Fenster. Ein paar Stufen führten hinauf zur herrschaftlichen Eingangstür aus schwerer Eiche. Jetzt, wo sie endlich am Ziel waren, war Altmanner plötzlich unsicher, ob sie es wirklich wagen sollten. In ihren staubigen, ärmlichen Kleidern, mit ihren ausgetretenen Schuhen sahen sie ja tatsächlich aus wie Bettler. Und völlig verschwitzt waren sie auch nach dem langen Marsch.
Er wäre froh gewesen, wenn sich alles doch noch als Irrtum herausgestellt hätte. Nachdenklich betrachtete er Rosa, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, aber trotz allem versuchte, seinem Blick liebevoll lächelnd zu begegnen.
»Wir haben ohnehin nichts mehr zu verlieren«, sagte er dann entschlossen, stieg die Stufen hinauf und klopfte an.
Eine Ewigkeit verstrich, bevor sich die Tür einen Spalt weit öffnete und eine Dame mittleren Alters mit dichtem blondem Haar, zu einer kunstvollen Frisur geflochten, herausschaute. Das Gesicht war sorgfältig gepudert, sie trug ein prachtvolles Kleid und duftete zart nach Rosenblüten. Misstrauisch beäugte sie Altmanner. Er konnte spüren, was sie dachte: Arme Leute vom Land, die es mit dem Betteln in der Stadt versuchen wollen. Gebe ich ihnen Almosen, kommen sie immer wieder.
»Wir sind keine Bettler«, beeilte sich Altmanner zu sagen, um dem unausweichlichen ›Wir-geben-nichts‹ zuvorzukommen.
»Ah so? Wer seid ihr dann?«
»Sind wir hier richtig bei Familie Ferdinand Ludowitz?«
Die Dame war sichtlich überrascht und bejahte mit einem Kopfnicken. Daraufhin überreichte er ihr ein versiegeltes Schriftstück mit den Worten: »Das soll ich euch geben!«
Sie löste das Siegel, überflog das Schreiben und rief dann sichtlich erregt ihren Gemahl Ferdinand zu sich. Ein gepflegter Mann mit feinen Gesichtszügen und gütigen Augen erschien kurz darauf. Er musterte rasch die Altmanners, die am Fuß der Treppe warteten, und las:
Mein lieber Freund Ferdinand!
Wenn Du dieses Schriftstück liest, werden Johann und Rosa Altmanner aus Turnau in der Steiermark vor Dir stehen.
Es sind brave Bauersleute, welche sich nichts zu Schulden haben kommen lassen und Hilfe brauchen. Ich verbürge mich für sie!
Wie alles hergegangen ist, können Dir diese Leute am besten selbst erzählen. Nimm Dir bitte die Zeit dafür.
Als ich damals von Wien weggegangen bin, hast Du mir versprochen, dass ich mich jederzeit auf Deine Unterstützung verlassen kann.
Ich hoffe, dass dieses Angebot auch für meine Freunde gilt.
Bitte hilf! Ich weiß, dass Du über ausreichend Einfluss verfügst.
Dein Freund
Andreas Bräuer
Ludowitz’ Gesicht hellte sich auf, er schmunzelte: »Andreas Bräuer, dieser alte Dickschädel und Weltverbesserer! Was macht er eigentlich?«
»Er versucht sich in Turnau als Dorflehrer«, antwortete Altmanner.
Ludowitz atmete tief durch, schaute fragend seine Gemahlin an, welche nur kurz nickte. »Tretet ein und folgt uns.«
Die Besucher wurden durch große Räume geführt, allesamt mit üppig verzierten, kostbaren Möbeln ausgestattet.
Überall an den Wänden hingen Gemälde von lieblichen Landschaften und Jagdszenen neben Portraits irgendwelcher Herrschaften. Alles blitzte vor Sauberkeit, und ein zarter Rosenduft lag in der Luft.
»Bitte nehmt doch Platz, Ihr seht sehr müde aus«, sagte Ludowitz freundlich.
Die Altmanners zögerten, doch der Hausherr deutete auf dick gepolsterte Stühle. »Bitteschön! Darf ich euch Tee und Kuchen anbieten?«
Sie zögerten abermals. Sie kannten diese Form der kultivierten Gastfreundschaft nicht.
»Etwas zu essen und zu trinken wird euch sicherlich guttun«, suchte der Gastgeber ihre Zweifel zu zerstreuen und lächelte freundlich.
»Vielen Dank«, brachte Altmanner verlegen hervor, »und entschuldigen Sie bitte unser Eindringen, aber in unserem Zustand …«
»Ihr braucht euch nicht zu entschuldigen. Meine Gemahlin Else und mich interessiert viel mehr, wer ihr seid und warum euch Bräuer zu mir geschickt hat. Nur so kann ich beurteilen, ob und wie ich euch helfen kann. Und sollte ich helfen, will ich später keine bösen Überraschungen erleben. Das hätte fatale Folgen für mich – in meiner Position.«
Seine Gattin hatte inzwischen Tee und Gebäck auf den mit Intarsien geschmückten Tisch gestellt. Altmanner ergriff vorsichtig eine Porzellantasse mit seinen geschundenen Händen. »Wo soll ich beginnen?«
»Ganz am Anfang!«, entgegnete Ludowitz.
Sein Besucher räusperte sich. »Das kann aber dauern.«
»Macht nichts. Wir haben Zeit!«
»Also gut. Meine Frau und ich hatten einen Bauernhof weit oben am Berg bei Turnau, einem kleinen Dorf, ein paar Kühe, Hühner und einen kleinen Wald. Es reichte