Der Herzenfresser. Josef Scherz

Der Herzenfresser - Josef Scherz


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erhob er sich, öffnete ein Fenster und blickte nachdenklich hinaus. Er ließ sich Zeit, schien mit sich zu ringen. »Bräuer und ich kennen uns seit dem Studium. Wir waren beide fasziniert von den neuen Erkenntnissen der Wissenschaften, welche viele althergebrachten Lehrmeinungen und das bisherige Gottesbild ordentlich erschüttert haben. Uns verbindet eine tiefe Freundschaft, obwohl wir unterschiedlicher nicht sein können. Er hat es schon immer als seine Pflicht betrachtet, die Leute endlich aufzurütteln, zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Religiöse Gefühle hält er für Humbug, auch sieht er keinen Unterschied zwischen Glaube und Aberglaube. Ich bin da eher ein Mensch, der an die Kraft und Wirkung der gemäßigten Worte glaubt. Anders wäre es auch gar nicht möglich, hier zu überleben. Immer und überall lauert die Gefahr, dass sich die vielen Damen und Herren am Hofe über irgendetwas empören und jede Kleinigkeit zu einem riesigen Skandal auswalzen.«

      Altmanner war erstaunt über diese offenen Worte seines Gastgebers ihm, dem kleinen Bauern gegenüber. Er hatte dies nicht erwartet, es gefiel ihm.

      »Da ich davon ausgehen kann, dass ihr ohne Unterkunft seid, könnt ihr vorläufig bei uns im Gästezimmer bleiben.«

      Ludowitz deutete mit gespielt ernster Miene auf das Bäuchlein der schwangeren Rosa.

      »In Zukunft sind anstrengende Fußmärsche tunlichst zu unterlassen, schließlich wollen wir ja alle, dass ein gesundes Kind zur Welt kommt!«

      2

      (Monate später …) Vom mächtigen Gebirgsstock des Hochschwab wehte ein unangenehmer, kalter Wind. Ein Vorbote des nahenden Winters. Für November nicht allzu ungewöhnlich in dieser Gegend.

      »Was stehst du da vor der Tür herum? Komm doch endlich herein«, sagte Pfarrer Johannes fröstelnd und hielt die Tür auf.

      Maria reagierte nicht.

      »Komm doch rein, mein Kind!«

      Maria trat mit gesenktem Haupt an ihm vorbei in die Stube.

      »Was ist denn los? Du wirkst so betrübt?«

      Er versuchte sie am Arm anzufassen, doch sie zog ihn schnell zurück. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als nach seiner Köchin Edeltraud zu rufen. Sie eilte herbei und bemerkte sofort die angespannte Situation.

      »Was ist denn passiert?«, fragte Edeltraud.

      »Ich bin so traurig!«, schluchzte Maria und fiel ihr in die Arme.

      »Aber was ist denn los?«, fragte Pfarrer Johannes mit betont ruhiger Stimme.

      Maria antwortete nicht.

      »Du hast doch keinen Grund unglücklich zu sein«, sagte Pfarrer Johannes beschwichtigend und lenkte ab: »Wir sollten uns alle freuen, denn die Ernte ist in diesem Jahr besonders gut ausgefallen, die ganz großen Unwetter haben einen weiten Bogen um die Gegend gemacht. Gott hat uns dafür belohnt, dass diese gottlosen Altmanners verschwunden sind!«

      Maria riss sich los und rannte aus der Stube. Edeltraud wollte ihr folgen, doch Pfarrer Johannes hielt sie zurück: »Lass mich machen! Sie braucht jetzt göttlichen Beistand.«

      Edeltraud sah ihn mit großen Augen an und murmelte fast unhörbar: »So, so. Göttlichen Beistand.«

      »Jawohl, göttlichen Beistand!«, sagte er betont, schickte Edeltraud in die Küche und vergewisserte sich im Flur, dass sie an ihren Arbeitsplatz zurückgegangen war. Dann suchte er Maria in ihrer Kammer auf.

      »Ich will allein sein«, greinte Maria, die bäuchlings auf ihrem Bett lag, das Gesicht ins Kissen vergraben.

      Er ignorierte ihren Wunsch, zog einen Hocker ans Bett und setzte sich. »Sag mir endlich, was geschehen ist? Ich bin schließlich auch dein Beichtvater. Ich werde nicht eher gehen, als bis du mir erzählt hast, was dir widerfahren ist.«

      Maria drehte sich ruckartig um.

      »Der Herr Graf und ich werden uns nicht mehr sehen. Es wird keine weiteren Treffen mehr mit ihm geben. Sein Stand erlaube es nicht. Ich verstehe das nicht. Ich liebe ihn doch, und er liebt mich. Ich weiß es, und ich spüre es.«

      Pfarrer Johannes wurde zornig: »Du weißt wohl, dass das alles eine Sünde ist?!«

      Sie verschränkte trotzig ihre Arme: »Hochwürden sprechen von Sünde?! Wenn das so ist, dann …«

      »Aufhören!«, schrie er sie an und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.

      Sie lachte auf: »Züchtigen Sie mich ruhig weiter.«

      »Nicht ich habe dich gezüchtigt. Es war Gott. Er hat mich angeleitet.«

      Daraufhin bekreuzigte er sich und rannte aus der Kammer nach draußen auf den Hof. Er atmete schwer und betrachtete seine Hände. Er konnte nicht glauben, was er soeben getan hatte.

      »Hochwürden?«

      Er reagierte nicht.

      »Hochwürden?«

      Widerwillig drehte er sich um: »Was ist, Edeltraud?«

      »Gott sieht alles.«

      Mit einem kräftigen Ruck stieß er die Köchin zur Seite und kehrte zu Maria in die Kammer zurück, die sich wieder aufs Bett gelegt hatte und schluchzte.

      »Mein Kind, ich glaube, wir sollten miteinander reden.«

      Er bemühte sich um einen gütigen Tonfall und strich ihr zärtlich übers Haar. Unwillig drehte sie sich weg. Das schmerzte ihn.

      Maria zitterte nun am ganzen Körper, sie war bleich und wimmerte: »Ich fühle mich nicht wohl!«

      Einen Moment später wurde sie ohnmächtig.

      Nun war es Johannes, der erschrak. Hilflos tätschelte er ihre Wangen, um sie wach zu bekommen. An diesem schönen, bleichen Gesicht konnte er sich kaum sattsehen. Er hielt kurz inne, rief aber dann nach Edeltraud. Und diesmal war sie es, die ihn zur Seite schubste. Sie legte eine Hand auf Marias Stirn, beugte sich über ihre Brust und horchte, ob sie noch atmete.

      »Sie braucht kalte Umschläge«, sagte sie dann, »wenn Hochwürden so gütig wären und schleunigst den Dorfbader holen könnten?«

      »Den Dorfbader?«, fragte er ängstlich, denn er war es gewohnt, dass Edeltraud für alles immer selbst ein Heilkraut zur Hand hatte.

      »Ja, den Dorfbader«, antwortete sie ungeduldig.

      »Ich hoffe doch nichts Schlimmes?«

      Anstatt zu antworten, bedachte Edeltraud ihn mit einem strengen Blick und bedeutete ihm, endlich zu gehen. Im Gehen hörte er Edeltraud noch sagen: »Oh mein Gott, warum lässt du das alles nur zu?«

      †††

      »Sie kommt wieder zu sich. Geht und lasst mich jetzt mit ihr allein«, vernahm Maria eine Stimme. Gleich darauf waren hektische Schritte und der dumpfe Knall einer zuschlagenden Tür zu hören.

      Langsam öffnete sie ihre Augen und starrte zur hölzernen Decke ihrer Kammer. Da beugte sich jemand mit schmalem, faltigen Gesicht und braunem Vollbart über sie. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und gewährte ihr einen Blick auf Zahnlücken und allerlei gelbe und verfaulte Zähne, an denen Essensreste klebten.

      »Hab keine Angst, Maria. Ich werde dich jetzt untersuchen«, sagte der Dorfbader und verbreitete dabei einen so üblen Mundgeruch, dass sie beinahe erbrechen musste.

      Gekonnt öffnete er ihr Kleid und begann den Unterleib mit seinen kalten, rauen Händen abzutasten.

      Manchmal zuckte sie ein wenig zusammen, was er mit einem wissenden Brummen quittierte. Er hatte offenbar einen Verdacht.

      »Wann hattest du deine letzte Blutung, mein Kind?«

      Als sie die Frage mit zitternder Stimme beantwortete, war die Sache für ihn klar: »Liebe Maria, du bist in anderen Umständen, du wirst Mutter!«

      Sie konnte seinem schlechten Atem noch immer nicht ausweichen.


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