Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner
Zum Beispiel sahen wir, dass Frauen besser darin sind, Dreiecke zu schließen. Sie sind also besonders gute Netzwerkerinnen, wenn es darum geht, stabile Netzwerke zu bilden. Bei Männern sahen wir, dass sie sich besonders gerne mit Menschen vernetzen, die selbst gut vernetzt sind. In solchen Netzwerken lassen sich zwar Informationen schneller weitergeben, sie sind aber weitaus weniger stabil. Wenn in einem solchen Netzwerk ein einziger Knotenpunkt ausfällt, kann ein Teil des Netzwerks auseinanderbrechen.
Wir fanden und dokumentierten eine ganze Reihe weiterer Unterschiede zwischen virtuellen Männern und Frauen. So ist bei Frauen die sogenannte »Wechselseitigkeit« größer als bei Männern. Wenn ich einen Link oder eine Beziehung zu dir etabliere, etablierst du dann auch einen Link zu mir? Frauen tun das öfter als Männer.
Wenn eine Frau einer anderen Frau sagt, »du bist meine Freundin«, kommt die Antwort meist sehr schnell. »Ja, ich bin auch deine Freundin«, lautet sie fast immer. Wenn ein männlicher Avatar zu einem anderen männlichen sagt »du bist mein Freund«, braucht der andere viel länger für eine Antwort, oder er gibt gar keine. Männer haben mehr Feinde als Frauen. Pardus-Avatare, die von besonders vielen anderen Menschen gehasst werden, werden aber vorwiegend von Frauen gehasst.
Wenn eine Frau eine andere Frau als Feindin markiert, ignoriert die andere das meistens. Wenn hingegen ein Mann einen Mann als Feind markiert, reagiert der meist sehr schnell: »Ja, ich hasse dich auch«. Frauen ziehen eher positive Verhaltensweisen an als Männer. In Gruppen mit Frauen gibt es weniger Aggression. Und Frauen umgeben sich viel lieber mit anderen Frauen als Männer sich mit anderen Männern umgeben. Frauen kommunizieren insgesamt mehr als Männer. Andererseits sind die sogenannten Super-Kommunikatoren meist männlich. Das sind die Menschen beziehungsweise Pardus-Avatare, die mit extrem vielen anderen kommunizieren.
Das Pardus-Universum versetzte uns in die Lage, praktisch jede jemals aufgestellte sozialwissenschaftliche These mit Daten zu überprüfen, um so, mit naturwissenschaftlicher Präzision, Aussagen über Gesellschaften zu treffen. Darüber, wie der Homo Sapiens tickt, wie er sich organisiert und welche Formen des Zusammenlebens er typischerweise entwickelt.
So konnten wir anhand der Analyse von Feindschafts-Netzwerken besser verstehen, wie Bestrafung funktioniert. In einer Reihe von wissenschaftlichen Publikationen konnten wir außerdem der Frage nachgehen, wie sich der virtuelle Mensch in Hierarchien organisiert, woher die Armut kommt und ob der Mensch eher gut oder eher böse ist. Wir fanden heraus, wie der Homo Sapiens mit Aggression umgeht, und um wieviel er aggressiver wird, wenn er durch unfreundliche Aktionen seiner Mitspieler gereizt wird.
Die für mich verblüffendste Erkenntnis aus unseren Pardus-Analysen war, dass es relativ gut vorhersehbar ist, was Avatare als Nächstes tun. Wenn wir wussten, was ein Spieler bisher getan hatte und wie sich andere Spieler ihm gegenüber verhielten, und das wussten wir wie gesagt immer, konnten wir berechnen, was die nächste Aktion dieses Spielers sein würde. Mit einer Trefferquote von mehr als neunzig Prozent.
Das ist doch alles nur ein Spiel, könnten wir sagen, das ist nicht die echte Welt und nicht alles, was wir im Pardus-Universum beobachten und verstehen, gilt auch für das echte Leben. Doch wenn schon in einem Computerspiel Informationen enthalten sind, aus denen wir so viel über die Spezies Mensch und uns als Gesellschaft lernen können, was könnten wir dann erst aus den Informationen lernen, die in weitaus größerer Menge in der echten Welt anfallen?
Praktisch jeder Mensch hinterlässt durch permanente digitale Fingerabdrücke einen ungeheuren Strom von Daten, die mittlerweile unaufhaltsam aufgezeichnet werden. Telefongesellschaften und Google besitzen unsere Aufenthaltsorte zu jedem Zeitpunkt. Sie kennen die Gesprächspartner aller Handynutzer und manchmal sogar ihre Gesprächsinhalte. Google weiß, welche Fragen wen beschäftigen, Amazon weiß, wer was kauft, die Nachrichtenagenturen, Netz- und Social-Media-Anbieter wissen, was wen interessiert, was wer liest, wie sich Meinungen bilden, wie sich Menschen organisieren, wie sie sich unterhalten, wie sie wählen und so weiter.
Wir als Gesellschaft im digitalen Umbruch sammeln nicht nur Informationen über uns Menschen. Überall platzieren wir Sensoren, die Daten erheben und mitschreiben. Wir vermessen schon fast alles, was auf dem Planeten und in seiner Nachbarschaft vor sich geht. Wir erstellen dadurch eine digitale Kopie unseres Planeten, in der wir alles speichern, was geschieht. Das Wetter, den Verkehr, wer was wo anbaut, produziert und transportiert, Meeresströme, die Abholzung, die Klimaerwärmung, die Kontinentalverschiebung, Erdbeben, Gravitationswellen und sogar wie sich Berge heben und senken. Sind wir auf dem Weg zur Allwissenheit? Das vermutlich nicht, aber wir sind definitiv auf dem Weg zu vollständiger Information über mehr und mehr Systeme. Alles, was man über sie wissen kann, wird als Information gespeichert.
Information an sich ist noch nicht viel wert, egal wie viel davon vorhanden ist. Wir müssen sie erst »verstehen« und in nutzbares Wissen verwandeln, bevor sie wirksam wird.
Wir müssen Wissen erst aus Information destillieren. Das ist seit jeher die zentrale Rolle und Aufgabe der Wissenschaft, auf die ich noch detailliert zu sprechen kommen werde. Es lässt sich jedenfalls sagen, dass die früher oder später komplette Erfassung aller Vorgänge auf dieser Welt uns unfassbare Möglichkeiten eröffnet. Möglichkeiten, die wichtig werden könnten.
Aber warum erzähle ich das in einem Buch, das von der Zerbrechlichkeit der Welt handelt und davon, was uns bedroht und wo wir ansetzen können, um Katastrophen zu vermeiden? Ich erzähle es, weil ich möchte, dass Sie dieses Buch mit einer positiven Perspektive lesen, obwohl es eigentlich von dunklen Dingen handelt.
Die Zahl der derzeit auf diesem Planeten lebenden Menschen, knapp acht Milliarden, die Art und Weise, wie wir übereingekommen sind, uns zu organisieren, uns fortzubewegen, zu wohnen, uns zu ernähren oder uns zu unterhalten, führt zu einer Reihe von Problemen, die kritisch sind. Kritisch in dem Sinne, dass sie das Zeug dazu haben, unsere gegenwärtige Zivilisation zu einem relativ abrupten Ende zu bringen, zu einem unwiderruflichen und unumkehrbaren Kollaps.
Zu diesen kritischen Problemen gehört allen voran der Klimawandel. Die Erderwärmung, hervorgerufen durch unsere Lebensweise und die dazu notwendigen Dinge wie die Industrie, die Infrastruktur, der Verkehr und die Landwirtschaft werden zu massiven Veränderungen in Bezug auf die Bewohnbarkeit und die Möglichkeiten zur Bewirtschaftung des Planeten führen.
Die Gefahren sind bekannt. Ansteigende Meeresspiegel führen zu Bevölkerungswanderungen, Wetteränderungen führen zu Dürren und Verödung, Zerstörung von Ökosystemen führt zu mehr Treibhausgasen und so weiter. Die Gefahren wachsen auch deshalb, weil viele der ihnen zugrundeliegenden Prozesse selbstverstärkend sind. So etwa setzen Permafrostböden beim durch die Erderwärmung hervorgerufenen Auftauen riesige Mengen des Treibhausgases Methan frei. Zu diesen Gefahren gehörtl auch, dass der Golfstrom stoppen könnte und Europa nicht mehr mit seiner Wärmeenergie versorgt. Doch davon mehr in Kapitel fünf.
Der zweite große Problemkreis, der uns bedroht, ist die Zukunft der Zivilgesellschaft. Demokratie und ihre Institutionen sind nicht gottgegeben, sondern beruhen darauf, dass der Großteil der Menschen an sie glaubt. Doch es bestehen Anzeichen dafür, dass viele aufhören, an die Demokratie als funktionierendes Gesellschaftssystem zu glauben. Den Umstand, dass es nach wie vor Missstände wie Korruption, gesellschaftliche Unfairness oder eine sich immer schneller öffnende Schere zwischen Arm und Reich gibt, schieben die sogenannten National-Populisten in aller Welt der Unfähigkeit der Demokratie und ihren Institutionen in die Schuhe. Als Lösung propagieren sie die Zerschlagung der Demokratie, ohne eine Vision anzubieten, was nachher geschehen soll.4
Dass die Demokratie der einzige verlässliche Garant für Freiheit, Gleichheit, Fairness oder Solidarität ist, wird von immer weniger Menschen so gesehen. Dabei steht Demokratie für etwas, das wir im Westen mehr als 300 Jahre lang bitter erkämpft haben. Für die Befreiung von Adel und Kirche, von Dogmen, Ideologien und Führern. Im Zuge dieser Entwicklung hat die westliche Gesellschaft Erfolge erzielt, die ihresgleichen suchen. Meinungs- und Redefreiheit, Frauenrechte und allgemeines Mitspracherecht gehören dazu, ebenso wie die Abschaffung der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Glauben, Nationalität oder sexuellen Präferenzen und allmählich sogar das Zugeständnis von Rechten für andere lebende Geschöpfe. Wir haben es geschafft, Millionen von Menschen in mehr