Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner
Zukunft blicken. Wir könnten besser abschätzen, was passieren könnte, wenn wir dieses tun, oder was passiert, wenn wir jenes tun. Nähern wir uns mit einer politischen Entscheidung oder einer gesellschaftlichen Verhaltensänderung den Klippen, und wenn ja, wie schnell? Oder gehen wir ihnen damit aus dem Weg?
In diesem Zusammenhang ergibt sich ein generelles Problem, dass man sich erst an Maschinen und Algorithmen gewöhnen muss, die Probleme lösen, die selbst Experten eventuell nicht mehr überblicken können. Hier tauchen neue Fragen auf: Sollen Maschinen die Kontrolle über die zentralen Lebensadern unserer Gesellschaft übernehmen? Es geht hier um das unbehagliche Gefühl, Kontrolle und Kompetenz an Algorithmen abzugeben.
Wie können wir sicherstellen, dass wir die Kontrolle über Algorithmen und Daten behalten, Transparenz schaffen und gleichzeitig massiven Missbrauch ausschließen? Grundsätzlich sollte wohl gelten: Was Maschinen besser können als Menschen, sollen auch Maschinen machen, ganz besonders dann, wenn es um so heikle Fragen wie die Sicherheit eines Finanzsystems, der Wirtschaft, der Umwelt oder die des Staates geht.
In der Medizin hat dieses Umdenken bereits eingesetzt. Wir haben uns in kurzer Zeit daran gewöhnt, dass künstliche Intelligenz Tumore besser erkennen kann als die besten Radiologen. Kaum jemand, außer vielleicht Radiologen, hat ein Problem damit. Das zeigt natürlich nicht notwendigerweise, wie gut Maschinen und Algorithmen bereits sind, sondern wie limitiert menschliche Entscheidungen oft sind, denen wir unser Wohlergehen und Leben anvertrauen.
Ein Wort zu Daten und Datenschutz. Im Zuge der Digitalisierung werden Daten heute in ungeheurem Ausmaß erhoben. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Trend abnimmt. Es werden immer mehr. Ob wir es wollen oder nicht, wir müssen mit der Digitalisierung und Big Data leben. Ein riesiges Problem, das mit der Digitalisierung einhergeht, besteht darin, dass es sich bei Daten zum Teil um personenbezogene Daten handelt, die zum Schaden und Nachteil von Personen und Personengruppen verwendet werden können. Viele Unternehmen weltweit verwenden diese Daten, um mit ihnen Profite zu machen. Die entsprechenden Geschäftsmodelle sind zum Teil relativ harmlos, wie etwa Werbung, zum Teil aber unfassbar unethisch und kriminell und reichen von massivem Wahlbetrug bis zu Verhetzung und Erpressung. Der Skandal um Cambridge Analytica im Jahr 2018 hat eventuell nur die Spitze des Eisbergs gezeigt, was an Niederträchtigkeit möglich ist.
Doch Daten haben auch eine ungemein positive Seite. Sie geben uns die Möglichkeit, unsere Umwelt, Gesundheit und Gesellschaft nachhaltig und drastisch besser zu machen und damit unser Leben angenehmer. Und sie geben uns die einmalige Chance – und davon handelt das Buch – die beiden »großen Probleme« zu lösen. Solchen positiven Nutzen aus Big Data zu generieren, ist zuerst einmal eine Aufgabe der Wissenschaft. Das aus mehreren Gründen.
Die Wissenschaft kann mit Daten umgehen. Seitdem es sie gibt, braucht sie Daten. Ohne sie funktioniert sie nicht. Mit dem gegenwärtigen Datenvolumen kann man in den nächsten Jahren mit einer regelrechten Erkenntnisexplosion rechnen, vor allem in der Medizin, den Sozialwissenschaften und der Wirtschaftswissenschaft.
Die Wissenschaft verfolgt in der Regel keine unmittelbaren kommerziellen Interessen und verwendet Daten in einer Weise, die keine Persönlichkeitsrechte verletzt. Wissenschaft hält durch ihre ethischen Standards den Datenschutz und Normen ein. Arbeiten mit zweifelhaften Daten beziehungsweise Daten zweifelhafter Herkunft oder Verarbeitung werden in seriösen wissenschaftlichen Journalen nicht akzeptiert.
Die Wissenschaft ist mit an vorderster Front, um bessere Methoden für einen ethischen Umgang mit Daten zu entwickeln, die es erlauben, sie einerseits für den Fortschritt der Gesellschaft positiv nutzen zu können und andererseits den Missbrauch und die Verletzung von Persönlichkeitsrechten auszuschließen. Zum Beispiel durch die Entwicklung von Methoden und Algorithmen der Anonymisierung. Das sind natürlich auch die Ziele und die ethischen Prinzipien, die der Complexity Science Hub Vienna in seiner Arbeit verfolgt.
KAPITEL 2: DIE FASZINIERENDE WELT DER KOMPLEXEN SYSTEME
Wir sind auf dem Weg, so gut wie alle Informationen dieser Welt aufzuzeichnen und zu speichern. Wir wissen aber oft noch nicht genau, was wir damit anfangen sollen. Die Wissenschaft Komplexer Systeme kann helfen, aus Daten nutzbares Wissen zu generieren. Wissen, das wir zukünftig verwenden können, um die großen Probleme unserer Zeit zu meistern.
WAS SIND KOMPLEXE SYSTEME?
Komplexe Systeme bestehen immer aus vielen einzelnen Elementen, die miteinander verknüpft sind und dadurch Netzwerke bilden. So etwa sind wir Menschen als Einzelteile des komplexen Systems »Gesellschaft« miteinander durch unser Familiennetzwerk, das Netzwerk unserer Freunde, das Netzwerk unserer Telefonate und Emails, das Netzwerk unserer Banktransaktionen oder das Netzwerk unserer Feindschaften verbunden.
Es ist eine der faszinierenden Eigenschaften komplexer Systeme, dass sich ihre Einzelteile über die Zeit hinweg verändern können. Sie verändern sich aber meistens nicht einfach so, sondern aufgrund der Netzwerke, in die sie eingebettet sind. Durch die Veränderung der Netzwerke verändern sich die Einzelteile und durch die veränderten Einzelteile verändern sich die Netzwerke.
Im Finanzsystem zum Beispiel sind die einzelnen Elemente die Banken, die mit Netzwerken von Kontrakten, Krediten oder Versicherungen miteinander verbunden sind. Die Eigenschaft einer Bank, zum Beispiel, wie viel Geld sie hat, bestimmt, welche Kontrakte sie in Zukunft eingehen kann. Die Eigenschaft »verfügbare Geldmenge« einer Bank bestimmt, wie das Netzwerk der Kontrakte sich im nächsten Augenblick verändern kann. Das Netzwerk der Kontrakte wiederum bestimmt, wie sich der Reichtum der Banken im nächsten Augenblick verändern wird, denn diese Kontrakte bestimmen den Geldfluss.
Die Quintessenz von komplexen Systemen ist, dass sich die Eigenschaften der Elemente und die Netzwerke zwischen ihnen ständig ändern und sich gegenseitig nach bestimmten Regeln beeinflussen. Der Zustand eines Elements hat Einfluss auf das Netzwerk, und das Netzwerk beeinflusst den Zustand jedes einzelnen Elements. Diese gegenseitige Beeinflussung funktioniert etwa so wie das berühmte Henne-Ei-Problem. Was war vorher da? Henne oder Ei? Eine Frage, die schwer zu lösen ist. Ohne Henne kein Ei und ohne Ei keine Henne.
Ähnlich schwierig ist die Frage zu klären, wie sich der Einfluss des Netzwerkes auf die Elemente und der gleichzeitige Einfluss der Elemente auf das Netzwerk auswirken. Während man das eine auf Basis des anderen verstehen möchte, verändert sich das andere. Das macht die Sache ungemein schwierig, eben komplex.
Der Mensch kann mit Komplexität nicht besonders gut umgehen. Komplexität übersteigt schnell jede mentale Kapazität. Für ein biologisches Gehirn ist es schlicht unmöglich, die vielen Bauteile eines komplexen Systems im Blick zu behalten. Noch viel unmöglicher ist es, die Netzwerke der gegenseitigen Abhängigkeiten zu verstehen und die Konsequenzen der gegenseitigen Beeinflussungen und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen der Bestandteile nachzuvollziehen. Wenn ein Netzwerk aus einer bestimmten Anzahl von Knoten besteht, sagen wir, diese Anzahl ist »N«, dann gibt es N2-N Möglichkeiten, wie sie sich beeinflussen können. Wenn ein Netzwerk zum Beispiel aus tausend Bestandteilen besteht, gibt es fast eine Million mögliche Beziehungen zwischen ihnen.
Auch die Wissenschaft konnte solcher Systeme bislang nicht Herr werden. Über Jahrhunderte konnte sie praktisch keine vernünftigen Schlüsse über Komplexität ziehen. Gleichzeitig ist der Mensch permanent mit komplexen Systemen konfrontiert, muss also mit Komplexität leben und mit ihr umgehen. Komplexe Systeme umgeben uns überall, egal wohin wir blicken. Praktisch alles, was wir interessant finden, ist ein komplexes System. Alles Lebende, jedes gesellschaftliche, ökologische, wirtschaftliche, finanzielle System ist komplex.
Komplexe Systeme zeigen eine ungemeine Vielfalt an Phänomenen, die sich nicht verstehen lassen, wenn man die Elemente einzeln betrachtet. Um mit einer scheinbar unbeherrschbar komplexen, vernetzten Welt umgehen zu können, hat sich der Mensch im Laufe der Geschichte deshalb allerlei ausgedacht. Lange Zeit sah man hinter vielen komplexen Phänomenen übernatürliche Kräfte am Werk, die man letztlich nur mit Göttern, Dämonen, dem Schicksal oder den Sternen »verstehen« konnte. Nur mit Hilfe höherer Einflüsse und göttlicher Lenkung konnte man »erklären«, wodurch es zu Krankheiten und