Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner

Die Zerbrechlichkeit der Welt - Stefan Thurner


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vielleicht die größte zivilisatorische Meisterleistung, die wir als Menschheit jemals erbracht haben.

      Der mögliche Zerfall der gegenwärtigen westlichen Zivilgesellschaft würde nichts weniger bedeuten, als ein Zurück in Abhängigkeiten und den Verlust der Freiheiten, die uns erlauben, uns als Menschen voll zu entfalten. Er würde zur Wiederauferstehung von Führern führen, die Macht wieder offen einsetzen, sowie den uneingeschränkten Aufstieg von Datenmonopolisten und die totale digitale Manipulation bedingen. Für all diejenigen, die ihre Freiheit lieben, wäre das die ultimative Katastrophe.

      Aber auch andere Entwicklungen gefährden die Zivilgesellschaft. Dazu gehören Veränderungen, die langsam vor sich gehen, aber deshalb nicht weniger Grund zur Sorge geben. Wie wirkt sich eine Überalterung der europäischen Gesellschaft aus? Wann kippt das Pensionssystem, wann das Gesundheitssystem, wann der Sozialstaat? Welche Rolle spielen dabei die Migration oder das Wiedererstarken des politischen Einflusses von Religion? Wie wird die Digitalisierung alles verändern? Wer verliert den Job? Wer verliert ohne Job den Sinn im Leben, selbst wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe?

      Die Stabilität der Wirtschaft und des Finanzsystems sind ebenso wenig gottgegeben. Trotz massiver Effizienzsteigerungen sind dort die Risiken nicht verschwunden. Sie sind in den vergangenen Jahrzehnten sogar gestiegen. In den letzten zehn Jahren haben wir zwei massive Finanzkrisen durchlebt und die durch Corona ausgelöste Wirtschaftskrise hat, während ich das hier schreibe, gerade erst begonnen.

      Die beiden »großen Probleme« Klimakrise und Gefährdung der Zivilgesellschaft sowie die damit zusammenhängenden Probleme, wie der Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Instabilität des Wirtschafts- und Finanzsystems, das alles könnte zum Untergang unserer Zivilisation führen. Der Kollaps kann plötzlich und unvermutet kommen. Ohne spektakuläre Anzeichen, durch kleine, unscheinbare Auslöser. Die »großen Probleme« hängen miteinander zusammen. Der Klimakollaps kann den Kollaps der Zivilgesellschaft und ihrer Institutionen auslösen, und umgekehrt.

      Dass Gesellschaften und Zivilisationen kollabieren, aussterben oder von anderen Kulturen absorbiert werden, ist an und für sich nichts Ungewöhnliches. Luke Kemp von der Universität Cambridge hat gezeigt, dass die durchschnittliche Lebensdauer von Antiken Kulturen etwas mehr als 300 Jahre betrug5. Wir können es uns schwer vorstellen, dass die Welt, so wie wir sie kennen, einfach verschwindet. Es gibt in der Geschichte einige Beispiele dafür, dass sich Menschen den Untergang der Welt, in der sie lebten, nicht vorstellen konnten.

      Die Römer etwa hielten sich bis zum Schluss für unbesiegbar. Doch egal, ob innere politische Konflikte, religiöse und soziale Umbrüche, Seuchen und Klimaänderung, oder ob Bürgerkriege und Angriffe von außen durch Germanen, Hunnen oder Vandalen daran schuld waren, im Jahr 480 unserer Zeitrechnung hörte ihre Welt auf zu existieren. Durch Chaos, Gewalt, Zerstörung und einen multiplen sozio-ökonomischen Kollaps.

      Auch die Rapa Nui auf den Osterinseln dürften den Untergang ihrer Welt nicht kommen gesehen haben6. Wahrscheinlich verursachten sie ihn selbst, indem sie für den Bau ihrer riesigen Steinfiguren ihre Wälder abholzten, bis die Insel, durch den permanent wehenden Wind, der Austrocknung und der Bodenerosion schutzlos ausgesetzt war. Die Auswirkungen, die das auf ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln hatte, ließ die Bevölkerung rapide schrumpfen, bis nichts mehr von ihr übrig war, außer einer Insel mit der geringsten Artenvielfalt im Pazifik und stummen steinernen Zeugen ihres Untergangs. Hätten die Rapa Nui das kommen gesehen, hätten sie ihre Forstwirtschaft überdacht und aufgehört, Baumstämme als Rollen für den Transport von Steinen zu benützen?

      Wie lange dachten die Mayas, dass ihre Welt ewig Bestand haben würde? Wie lange bevor der letzte Habsburger Kaiser Karl I. auf »jeden Anteil an den Staatsgeschäften« verzichtete, dachten die Österreicher, die Monarchie würde für immer weiterbestehen? Wie lange dachten die Deutschen, sie könnten den Zweiten Weltkrieg noch gewinnen? Bis wie lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs dachten die Russen, ihre Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sei ein tragfähiges Konzept, das bis ans Ende der Zukunft reichen würde?

      Gesellschaften kollabieren oft unmittelbar. Warum ist ein herannahender Kollaps so schwer zu sehen? Auch Finanzkrisen treten oft unmittelbar auf. So hatte praktisch kein Ökonom die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 auf dem Radar. Warum erkennt niemand die Anzeichen, warum hört niemand die Warnglocken schrillen? Wieso gibt es im 21. Jahrhundert eigentlich keine Frühwarnsysteme für Kollaps?

      Die Antwort hat etwas mit komplexen Systemen zu tun. Unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unser Gesundheitssystem genauso wie das Klima oder das Finanzsystem sind komplexe, dynamische Systeme. Auch wenn diese Systeme vollkommen unterschiedlich sind, haben sie eines gemeinsam: Sie kollabieren plötzlich. Über weite Strecken hinweg sind sie erstaunlich stabil, robust und anpassungsfähig, sie erlauben auch Fehler, aber wenn sie zu gewissen Punkten gelangen, dann kollabieren sie – unvermittelt. Diese Punkte sind die sogenannten Tipping Points. Ein Tipping Point oder ein Kipp-Punkt ist ein »Übergangs-Punkt«. Nachdem ein System so einen Punkt erreicht, ist nichts mehr so, wie es vorher war.

      Tipping Points sind wie Klippen, die unter der Wasseroberfläche verborgen sind. Wenn man mit einem Schiff draufdonnert, sinkt man. Ein anderes Bild für einen Tipping Point ist eine Wanderung, die jemand in dichtem Nebel in einer Berglandschaft unternimmt, die von steilen Abhängen umgeben ist. Wenn der Wanderer an einen Abhang kommt, reicht ein falscher Schritt und er stürzt unvermittelt ab.

      Bisher war es nur möglich, die Klippen, über die unsere Vorfahren gestürzt sind, im Nachhinein zu sehen – sobald sich der »Nebel« verzogen hatte. Erst die Geschichte konnte klären, wieso der Abgrund auf einmal da war, und oft nicht einmal sie, wie wir im Fall des römischen Reichs wissen.

      Wenn antike Kulturen etwa 300 Jahre alt wurden, wie alt ist unsere? Wann unsere gegenwärtige Kultur genau ihren Anfang nahm, ist nicht leicht zu sagen und bleibt zu einem gewissen Grad willkürlich. Man könnte behaupten, sie begann mit den klassischen Griechen. Oder doch eher mit dem Beginn der modernen Gesellschaft, also mit der Renaissance, mit der Erfindung der modernen Wissenschaft, dem Humanismus, dem Buchdruck, der Reformation und der Entdeckung der Seewege nach Indien und Amerika? Wenn man letzteres wählt, ist unsere Welt, also die moderne Gesellschaft, rund 400 bis 500 Jahre alt. Ist sie damit bereits überfällig?

      Eine ernstzunehmende Antwort auf die Frage, wann unsere Gesellschaft kollabieren wird, versuchte mein Kollege Peter Turchin von der Universität Connecticut und dem Complexity Science Hub Vienna vor zehn Jahren zu geben. Turchin hat sich auf die mathematische Modellierung historischer Gesellschaften und deren Kollaps spezialisiert. Seine Vorhersage ist schlicht und ergreifend: »2020«7.

      Prophetische Aussagen dieser Art sind eher untypisch für die Wissenschaft. Hinter der Prognose steckt natürlich mehr. Peter Turchin hat ein mathematisches Konzept entwickelt, das es ihm erlaubt, das Zu- und Abnehmen von sozialen Spannungen und Unruhen über mehrere Jahre vorherzusagen. Durch eine Kombination von biologischen, sozialen und politischen Beobachtungsdaten kann er Kennzahlen berechnen, die ihm erlauben, das Auseinanderdriften großer Bevölkerungsschichten früher als andere zu erkennen8. Ob die Unruhen in den USA im Sommer 2020 bereits Anzeichen des von ihm angekündigten Kollaps sind, bleibt abzuwarten. Dass soziale Spannungen, politische Polarisierung und Versuche, die Zivilgesellschaft gezielt zu spalten, zwischen 2010 und 2020 drastisch zugenommen haben, daran besteht kein Zweifel.

      Wenn unsere Gesellschaft tatsächlich untergehen sollte, wäre das nichts Neues. Hunderte Zivilisationen und Gesellschaften haben dasselbe Schicksal erlitten. Das einmalige an unserem Untergang wäre, dass wir dieses Mal das Zeug dazu gehabt hätten, die Klippen zu sehen, die uns zu Fall bringen.

      Die Wissenschaft hat in Kombination mit der Möglichkeit, immer mehr Daten zu sammeln und im Prinzip alle Informationen auf dem Planeten abrufbereit zur Verfügung zu haben, erstmals die Voraussetzungen dafür, Tipping Points im Vorhinein zu sehen. Wir wissen inzwischen mit Sicherheit, dass sie tatsächlich existieren und dass es keinen Sinn macht, ihre Existenz zu verleugnen. Wir sehen das zum Beispiel eindrücklich im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung. Das Zusammenspiel von Wissenschaft und globalem Datenmonitoring erlaubt uns erstmals zu sehen, worauf wir im Nebel zusteuern.

      Die Vorstellung,


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