Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner
Diese Beziehungen bilden Beziehungsnetzwerke. Die Modelle beschreiben dann anhand sogenannter update-Regeln, die in Computeralgorithmen implementiert werden, wie sich die Agenten aufgrund der Beziehungen zueinander verändern, und wie sich die Beziehungen aufgrund der neuen Eigenschaften der Agenten zeitlich ändern. Der Algorithmus beschreibt also die zeitlichen Updates von Agenten und Netzwerken. Daten werden dann dazu verwendet, um die update-Regeln zu identifizieren, und um die Eigenschaften der Bauteile sowie die der Netzwerke möglichst realistisch abzubilden.
Besser verständlich wird die Sache anhand eines Beispiels, wie sich Viren ausbreiten. Menschen – die Agenten – haben immer eine von drei Eigenschaften: Sie sind entweder gesund und sind durch einen speziellen Virus ansteckbar, oder sie sind angesteckt und krank, oder sie sind nach überstandener Krankheit wieder gesund und immun und können daher nicht noch einmal angesteckt werden. Diese Agenten stehen über soziale Netzwerke miteinander in Verbindung. Immer, wenn eine Verbindung zwischen einem angesteckten und einem ansteckbaren zustande kommt, kann der ansteckbare angesteckt werden und seine Eigenschaft verändert sich. Seine sozialen Netzwerke ändern sich ebenfalls: Sobald ein Agent glaubt, dass sein Freund angesteckt ist, vermeidet er einige Tage den Kontakt, um nicht selbst angesteckt zu werden. Das nennt sich Social Distancing.
Wenn sich alle so verhalten, lässt sich nicht nur ausrechnen, wie sich die Seuche ausbreitet, sondern auch, wie sich Sozialkontakte über den Seuchenverlauf hinweg verändern. Wenn man das Social Distancing nicht berücksichtigt, kommt man manchmal auf extrem falsche Vorhersagen über die Seuchenausbreitung. An solchen bestand kein Mangel während der Corona-Krise.
Durch das erwähnte »in Kontext bringen« und durch das Verbinden von Agenten durch Netzwerke entsteht in der Wissenschaft komplexer Systeme manchmal eine Zusammenschau von verschiedenen Disziplinen. Es entsteht sogenannte Interdisziplinarität. Die Komplexitätsforschung verbindet das Fachwissen aus mehreren verschiedenen Bereichen, wie etwa der Physik, der Biologie, den Sozialwissenschaften, der Chaostheorie oder der Spieltheorie und der Theorie der Differenzialgleichungen aus der Mathematik.
KOMPLEX ODER KOMPLIZIERT?
Viele Phänomene und Systeme sind kompliziert. Sie sind deswegen aber noch lange nicht komplex. Wie wir besprochen haben, entsteht Komplexität erst, wenn die unterschiedlichen Bauteile eines Systems und ihre Verbindungen sich gegenseitig beeinflussen und sich in enger Abhängigkeit voneinander über die Zeit hinweg verändern.
Ein Beispiel aus der Physik: Die Planetenbewegung ist vielleicht kompliziert, speziell wenn man sie selbst berechnen soll, aber sie ist nicht komplex. Die Bauteile, nämlich die Sonne und die Planeten ändern sich nicht, nur ihre Position verändert sich. Auch ändert sich die Interaktion zwischen ihnen nicht. Die Wechselwirkung bleibt immer dieselbe: die Schwerkraft. Diese ändert zwar die Position der Planeten, aber die Bewegung der Planeten ändert in der klassischen Physik nichts an der Schwerkraft. Die Wechselwirkung bleibt dieselbe. Das System ist also nicht komplex. Auch eine Rakete, die zum Mond fliegt, ist nicht komplex. Sie folgt bekannten, vielleicht manchen etwas kompliziert anmutenden Differenzialgleichungen. Es kommen aber keine sich verändernden Netzwerke vor.
Ganz anders verhält es sich bei gesellschaftlichen Phänomenen. Wieder ein einfaches Beispiel: Ein Freund, mit dem ich durch einen »Freundschaftslink« verbunden bin, schenkt mir ein Buch zum Geburtstag. Die Lektüre ändert nun zum Beispiel nachhaltig meine Sichtweise zum Thema Tierschutz. Am nächsten Tag gehe ich in eine Tierklinik und spende ihr tausend Euro, was mir nicht nur Freude macht, sondern auch viele neue Freunde einbringt. Die Interaktion, mit der mein Freund mir das Buch geschenkt hat, ändert zunächst meine Eigenschaften, indem sie meinen Altruismus steigert, und bringt mir dann eine Menge neuer Interaktionen ein.
Durch die Veränderung der Individuen verändert sich das Netzwerk ihrer Freundschaften, und durch die Veränderung des Freundschaftsnetzwerkes verändern wir uns als Individuen. Das ist komplex.
NETZWERKE, NETZWERKE, NETZWERKE
Die meisten komplexen Systeme sind natürlich auch sehr kompliziert. Als Faustregel gilt: Wenn sich ein Netzwerk über die Zeit hinweg verändert und sich dadurch die Eigenschaften der Komponenten des Netzwerks verändern, dann ist ein System meist auch komplex. Mit dieser Definition wird nun klar, welche Systeme tatsächlich komplex sind: Jedes Ökosystem, jedes soziale System, jedes Finanzsystem, jede Zelle ist komplex. Aber auch jedes Lebewesen, ein Ameisenhaufen, das Gesundheitssystem, das Klima, das Internet und so fort. Das alles sind komplexe Systeme.
Als Organismen sind Menschen selbst komplexe Systeme. Sie sind umgeben und eingebettet in natürliche komplexe Systeme. Als soziale Wesen errichten sie ständig neue komplexe Systeme, wie zum Beispiel ihre sozialen Netzwerke. Die Welt besteht aus miteinander verwobenen, interagierenden, aufeinander einwirkenden und sich ständig verändernden komplexen Systemen.
Hinter vielen komplexen System stehen oft mehrere dynamische Netzwerke, die miteinander direkt zusammenhängen und sogenannte »Netzwerke von Netzwerken« bilden. So zum Beispiel hängen das Stromversorgungsnetzwerk, das Internet und das Kommunikationsnetzwerk zusammen. Das wird bei einem Stromausfall deutlich: Wenn ein umstürzender Baum eine Stromleitung lahmlegt und ein Transformator durchbrennt, sollte diese Störung natürlich über das Kommunikationsnetzwerk an eine Reihe von Personen weitergeleitet werden. Wenn durch den Stromausfall aber die Stromversorgung des Internets oder des Kommunikationsnetzwerks nicht mehr funktioniert, dann geht das nicht mehr. Dann kann man nicht mehr davon ausgehen, dass die notwendigen Maßnahmen an den anderen Stellen des Stromversorgungsnetzwerkes getroffen werden, dass zum Beispiel Transformatoren vom Netz genommen werden, damit sie nicht ebenfalls durchbrennen. So verursacht der Ausfall eines Netzwerkes den Ausfall eines anderen und verstärkt dadurch noch das Ausmaß des ersten. Wir werden im Laufe des Buches noch öfter auf Ausfälle dieser Art zurückkommen.
MEHR ALS DIE SUMME DER TEILE
Oft werden komplexe Systeme beschrieben als solche, bei denen »das Ganze« mehr ist als die »Summe seiner Teile«. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich bereits, was den Unterschied zwischen der Summe der Teile und dem Ganzen ausmacht: Es ist das Netzwerk der Interaktionen. Diese Netzwerke von Wechselwirkungen führen letztlich zu den Eigenschaften und Phänomenen der komplexen Systeme, die man beim Betrachten der Einzelteile – ohne Netzwerk – nie erwarten würde.
Man kann eine einzelne Ameise noch so genau untersuchen, studieren und bis ins kleinste Detail verstehen, man würde aus den entdeckten Eigenschaften der einzelnen Ameise niemals erwarten, dass sie in Gemeinschaft mit anderen Ameisen einen komplexen Staat errichten würde mit klaren Aufgaben, Arbeitsteilung und einem einfachen Sozialleben. Man würde vielleicht noch erwarten, dass eine einzelne Ameise, wenn man sie auf einen Tisch setzt, in einem zufälligen Muster herumspazieren würde. Doch setzt man zwei Ameisen auf den Tisch, beginnt die eine dem Geruch der anderen zu folgen. Früher oder später werden sich beide in einem Kreis verfolgen. Das ist etwas völlig anderes als das zufällige Wandermuster einer einzelnen Ameise. Wenn hunderte Ameisen zusammen sind, beginnen sie, einen Staat zu bilden. Das ist wieder ein vollkommen anderes System mit vollkommen anderen Eigenschaften.
Ähnlich verhält es sich mit Neuronen, den auf Erregungsleitung spezialisierten Nervenzellen. Ein einzelnes Neuron funktioniert im Grunde ähnlich wie ein elektrisches Kabel. Es leitet einen elektrischen Impuls entlang des Axons, eines schlauchartigen Zellfortsatzes. Das ist nicht komplex. Doch wenn mehrere Neuronen über Synapsen, vergleichbar etwa mit biologischen »Lötstellen«, zusammengeschaltet sind, geschieht etwas vollkommen Unerwartetes: Sie können plötzlich lernen. Einige von ihnen können zum Beispiel einen Schaltkreis bilden, der im Kopf einer Fliege deren Flugverhalten steuert. Wenn sehr viele Neuronen zusammenkommen, entsteht irgendwann einmal sogar etwas wie ein Bewusstsein. Es sind immer dieselben Bauteile, die Nervenzellen, es sind immer dieselben Verbindungen, die Synapsen. Entscheidend für die »kognitiven« Eigenschaften ist die Plastizität der Schaltstellen, also der Umstand, dass die »Lötstellen« nicht immer gleich gut miteinander verbunden sind, sondern sich verändern. Zellverbindungen, die oft verwendet werden, werden stärker »verlötet«, das neuronale Netzwerk ändert sich. Wesentlich für die kognitiven Fähigkeiten ist auch