Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner

Die Zerbrechlichkeit der Welt - Stefan Thurner


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Fischschwärme bilden.

      Die Naturwissenschaft konzentrierte sich in den vergangenen 300 Jahren auf die Erforschung einfacher Systeme, denen keine dynamischen Netzwerke zugrunde liegen. Das Erfolgsrezept war der sogenannte Reduktionismus, eine philosophische und naturwissenschaftliche Vorgehensweise, bei der man versucht, ein System in seine Einzelteile zu zerlegen, diese – weil sie meistens einfacher sind, als »das Ganze« – zu verstehen, um dann aus der Funktionsweise der Einzelteile zu schließen, wie »das Ganze« funktioniert. Man versucht kurz gesagt, das Ganze aus den Eigenschaften seiner Einzelteile heraus zu verstehen.

      Wie weit wir mit dieser Vorgehensweise gekommen sind, zeigen uns die Physik, die Chemie und die Molekularbiologie. Wir ernähren derzeit fast acht Milliarden Menschen, alle können miteinander jederzeit von Angesicht zu Angesicht kommunizieren, indem sie in Glasplatten sprechen. Wir verstehen die Funktionsweise von Viren und haben bereits vor einem halben Jahrhundert nicht nur Menschen auf den Mond geschickt, sondern auch, wenn auch vollkommen sinnlos, ein dazugehöriges Auto, das Lunar Roving Vehicle.

      COMPUTER VERÄNDERN ALLES

      Das Verständnis komplexer Systeme wurde erst mit der Erfindung des Computers möglich. Hätten wir nur unser Gehirn, Bleistift, Papier und vielleicht noch eine einfache Rechenmaschine, wie das vor sechzig Jahren noch der Fall war, wären wir nach wie vor nicht in der Lage, komplexe Systeme zu verstehen. Wir hätten weder Daten noch die Möglichkeit, mit ihnen etwas Sinnvolles anzufangen. Wir hätten zum Beispiel keine Chance, die globalen Ausbreitungsmuster eines neuartigen Virus entlang von sozialen Kontaktnetzwerken zu verstehen. Und selbst, wenn wir genaue Daten darüber hätten, wer wen angesteckt hat, wir wüssten nicht, wie man daraus wirksame Gesundheitsmaßnahmen ableiten sollte. Wir könnten einfach nicht Schritt halten mit den sozialen Netzwerken, wie sie sich in Folge der Pandemie verändern, und damit das Verhalten der Menschen verändern, und diese wiederum die Netzwerke.

      Computer, Big Data und quasi unbegrenzter Speicherplatz ermöglichen es uns, solche Systeme jetzt besser zu verstehen. Big Data liefert uns nicht nur die Daten zu allen Einzelteilen, sondern auch zu deren Verbindungen und Wechselwirkungen. Mit Hilfe von Computern und Datenbanken können wir nachverfolgen, wie sich Netzwerke und Eigenschaften gleichzeitig verändern.

      Heute können wir als Menschheit dank der Informations- und Computer-Technologie im Prinzip wissen, wer mit wem kommuniziert. Man könnte es zum Beispiel in Daten der sozialen Medien oder in den Daten von Telefongesellschaften nachverfolgen. Man sieht, wer welche Inhalte im Netz anklickt und vermutlich liest, wer welche Dinge bestellt und konsumiert. Man kennt jede Zahlung mit Karte, jede Überweisung wird aufgezeichnet, man kennt das Einkaufsverhalten Einzelner und das ganzer Bevölkerungsgruppen. Man weiß, wer welche Filme sieht und kennt Netzwerke von denen, die miteinander befreundet oder verfeindet sind, man kennt durch GPS die Bewegungen all derjenigen, die es am Smartphone nutzen, man weiß, wer was produziert, wer gerade woran arbeitet und wer in welchen Verhaltensmustern gefangen ist. Man kennt die Herzschläge, Atemzüge und Blutsauerstoffwerte derer, die sie mit ihren Smartwatches in die Cloud laden. Konzerne können damit das Gesundheitsprofil der betreffenden Menschen täglich aktualisieren und mit den gekauften Medikamenten abgleichen.

      In neuen Autos befinden sich bereits mehrere SIM-Karten. Manche Modelle melden direkt an den Autohersteller oder an die Versicherung, wie konzentriert der Fahrer ist und was im und um das Auto herum passiert. Man lässt Kühe Sensoren schlucken, die uns in Echtzeit sagen, was im Kuh-Magen gerade vorgeht, und die uns anzeigen, wenn eine Kuh krank zu werden droht. Man beobachtet mit Sensoren Verrottungsprozesse in Mülltonnen und erfasst den CO2-Ausstoß von Müllhalden. Man kann den Standort und die Fracht jedes Schiffes zu jeder Zeit lokalisieren, man überwacht sämtliche Flugzeuge und Passagiere und kann verfolgen, wo Bäume gefällt und wo Urwälder in Palmölplantagen umgewandelt werden.

      GPS-Daten machen selbst minimale Veränderungen messbar. Die millimeterweisen Bewegungen von Bergen etwa, oder den Anstieg des Meeresspiegels. Jeder Befehl auf den Computern wird mitgeloggt, jeder Radfahrer wird gezählt, jeder LKW auf jeder Autobahn wird erfasst. Wir haben begonnen, alles, was sich auf dem Planeten tut, mitzuschreiben und zu speichern. Kameras, Chips, Speicherkarten und Sensoren übersehen praktisch nichts mehr.

      Diese Vermessung der Welt findet in ungeheurem Ausmaß statt und es sieht nicht so aus, als gäbe es ernstzunehmende Tendenzen, die dem Einhalt gebieten würden. Wir produzieren mehr und mehr Sensoren. Sie nehmen die physische und digitale Wirklichkeit wahr, verwandeln sie in Daten und speichern sie. Die digitale Kopie des Planeten wird immer genauer. Wie viele Terabytes und Zettabytes sind das? Weil es exponentiell mehr werden, brauchen wir immer neue Worte dafür. Yottabyte zum Beispiel. Ein Yottabyte besteht aus 1.000.000.000.000.000, oder, anders gesagt, tausend Billionen Gigabyte.

      SINN AUS DATEN

      Was können wir mit dieser digitalen Kopie des Planeten anfangen? Wenn wir das alles wissen, warum sind wir dann nicht viel weiter? Wieso wissen wir nicht, wie viele Menschen im Jahr 2050 auf dem Planeten leben werden, um wieviel Grad sich die Erde in den nächsten fünfzig Jahren erwärmen wird, wieso wissen wir nicht, wann der nächste Hurrikan kommt, wieso wissen wir im Sommer 2020 nicht, ob es im Herbst eine zweite COVID-19-Welle geben wird? Warum wissen wir nicht, ob es heute Abend einen Verkehrsstau in Wien geben wird, wie wahrscheinlich ein massiver Volksaufstand in den USA ist oder wie teuer die nächste Finanzkrise in Deutschland für die Bürger werden wird?

      Wir wissen das alles und noch sehr viel mehr nicht, weil diese Systeme komplex sind, und wir diese Komplexität nicht beherrschen. Wir wissen nicht, wie wir die Daten, die wir über diese Systeme sammeln, verwenden sollen und wie sie uns helfen könnten, besser mit Komplexität umzugehen.

      Bevor wir einen Schritt weiterkommen, müssen wir aus diesen Daten verwendbares Wissen generieren. Wie in Kapitel eins besprochen, sind Daten alleine oft noch nicht viel wert. Damit Wert entsteht, muss man sie erst in einen »Kontext« bringen. Erst dann kann man versuchen, Sinn daraus zu generieren. Kontext entsteht, wenn Daten zusammengeführt und in einen Bezug zueinander gebracht werden, sodass man konkrete Fragen an sie richten kann. Erst dann entsteht eine nützliche digitale Kopie des Planeten. Erst der Bezug kreiert Sinn. Sonst bleibt Information meist sinnlos.

      WIE BRINGT MAN DATEN IN EINEN KONTEXT?

      Daten beschreiben fast immer eines von zwei Dingen: Entweder sie geben die Eigenschaften von Dingen wieder, zum Beispiel wie viel Geld Frau Müller am Konto hat oder wie schnell das Auto von Herrn Mayer gerade jetzt fährt. Oder sie geben an, wie eine Sache mit einer anderen in Verbindung steht. Letzteres ist nichts anderes als eine Verbindung in einem Netzwerk, ein »Link«. Also zum Beispiel: Herr X hat am 2. Juni 2020 Frau Y angerufen, das heißt, am 2. Juni waren X und Y durch ein Telefonat in Verbindung, es bestand ein »Kommunikationslink von X nach Y«. Diesen Link kann man nun in einer Datenbank speichern.

      Daten sind bereits oft in einer Form, die die Essenz von komplexen Systemen ausmacht. Sie bilden bereits ab, was für die Beschreibung von komplexen Systemen notwendig ist: die Eigenschaften der Bauteile und die Netzwerke zwischen ihnen. Das ist der Grund, weshalb die Wissenschaft Komplexer Systeme wunderbar mit Big Data zusammenpasst.

      Wenn es gelingt, in Daten einen Kontext herzustellen, können wir damit fantastische Dinge tun. Wir können daraus vollkommen neuartiges Wissen gewinnen und neue Einsichten, zum unmittelbaren Nutzen für die Menschheit. Diese Kopie gibt uns die Möglichkeit, den Homo Sapiens und seine Gesellschaften, Institutionen und sozialen Systeme erstmals wirklich zu verstehen, in einer Qualität, die bisher nur in den Naturwissenschaften möglich war. Fast so wie im Pardus-Spiel – nur in echt.

      Diese Entwicklung ist mitunter das Spannendste, das ich bisher erlebt habe, denn es erlaubt der Menschheit in weiterer Folge, die Planung unserer Gesellschaft in Zukunft weitaus besser in den Griff zu bekommen. Und sie schafft eine ernstzunehmende Möglichkeit, die »großen Probleme« rational anzugehen und zu meistern.

      Die Wissenschaft komplexer Systeme versucht systematisch, Kontext in Daten herzustellen. Um das zu tun, bedient sie sich oft sogenannter Agenten-basierter Modelle. Das sind Computermodelle, bei denen die


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