Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner
Planeten die »großen Probleme« erkennen und lösen werden, ohne dass unsere Nachkommen dafür bitter bezahlen müssen, ist die positive Perspektive dieses Buches. Sie handelt von der realistischen Möglichkeit, uns als globale Gesellschaft auf eine Weise neu zu erfinden, sodass wir den Untergang vermeiden. Wir sind nach wie vor weit davon entfernt, die »großen Probleme« zu lösen, und es bleibt weiterhin ungewiss, ob wir es schaffen werden, bevor einige Systeme die Tipping Points erreichen. Aber wir können und sollen es versuchen, mutiger und bewusster als bisher. Denn es besteht eine echte Chance.
Dass sich zehntausende Wissenschaftler mit Ärzten, Entscheidungsträgern, Sozialarbeitern und Ökonomen organisieren und zusammenarbeiten können, um ein praktisches Problem zu lösen, haben wir in der Corona-Krise eindrucksvoll gesehen. Ohne den Beitrag der Wissenschaft und ihren Möglichkeiten, weltweit Daten zu sammeln, auszuwerten und in konkrete Handlungsanweisungen zu übersetzen, hätte das Virus vermutlich unsere Gesundheitssysteme grenzenlos überlastet und Millionen von Menschen das Leben gekostet. Die Botschaft ist klar: Um den durchaus möglichen Kollaps unserer Welt, ihre Verwandlung in etwas, das wir bestimmt nicht haben möchten, abzuwenden, sollten wir alles tun, um die Kipp-Punkte der entscheidenden Systeme besser identifizieren zu lernen. Das schaffen wir ausschließlich mit Wissenschaft und Forschung in Kombination mit Big Data. Egal was es kostet, der Kollaps ist teurer. Er ist unbezahlbar teuer.
Zum Aufbau. Ich werde zunächst in Kapitel zwei zeigen, was die Wissenschaft der komplexen Systeme kann. Sie ist eine relativ junge und eventuell die aktuellste aller Wissenschaften, die großteils am Santa Fe Institute in Neumexiko in den 1980er-Jahren entworfen wurde. In Kapitel drei geht es darum, was ein Kollaps überhaupt ist und wie man ihn wissenschaftlich beschreiben kann. Wir werden sehen, wie die Wissenschaft komplexer Systeme mit ihrer nüchternen, mathematisch-physikalischen Perspektive dazu beitragen kann, Kipp-Punkte zu identifizieren, um so die wahren Schwachstellen in den unterschiedlichen Systemen sichtbar zu machen.
In Kapitel vier stelle ich dar, wie zerbrechlich unser Finanzsystem ist, in Kapitel fünf, wie es um unser Klima und unsere Ökosysteme bestellt ist. In Kapitel sechs geht es schließlich um die Zerbrechlichkeit unserer Zivilgesellschaft.
Ich werde versuchen zu zeigen, dass die Antwort auf die Gefahren der Klimakrise nicht in einem Öko-Kommunismus oder einer Öko-Diktatur liegt, wie sie manche predigen. Sie besteht auch nicht in der Rückkehr in eine idealisierte romantisierte Welt von gestern. Ich werde vielmehr zeigen, dass die Antwort im technischen Fortschritt, in der Wissenschaft der komplexen Systeme, in Big Data und der Rechenleistung von Computern liegt. Es geht dabei um eine Kombination von technischen Neuerungen mit mentalen Veränderungen in sozio-ökonomischen Netzwerken. Dank dieses Fortschrittes haben wir gegenüber allen bisher untergegangenen Kulturen eben diesen einen entscheidenden Vorteil: Sie konnten die Klippen nicht sehen, über die sie gestürzt sind. Sie hatten keine Chance. Wir haben eine.
Wir sind auf dem Weg, diese Chance für uns nutzbar zu machen, bereits einige Schritte gegangen. Das Computerspiel Pardus war für uns ein erster Hinweis darauf, wie wissenschaftliche Modelle der Zukunft aussehen könnten. Eine kleine künstliche Welt im Computer mit sämtlicher und vollständiger Information darüber, was in ihr passiert und passiert ist. Während ich das schreibe, sind 16 Jahre vergangen, seit Michael Szell und sein Freund das Computerspiel online stellten und damit ein digitales Modell der Gesellschaft und eine Art Petrischale zur Erforschung unserer Spezies und unserer Kultur schufen. Inzwischen sind wir mit solchen Modellen sehr viel weiter. Wir können langsam damit beginnen, die echte Welt als 1:1-Modell mit vollständigen Datensätzen zu modellieren. Erst mit der Zusammenführung der Daten in einem Modell dieser Art macht die digitale Kopie des Planeten Sinn. Erst so können wir beginnen, diese Informationen in nachhaltiges und verwendbares Wissen zu verwandeln.
Sobald wir solche 1:1-Modelle der relevanten Systeme haben, werden wir das Thema Kollaps auf eine vollkommen neue Art verstehen lernen. Wir werden nicht nur die Tipping Points besser identifizieren und lokalisieren können, wir werden auch konkrete Lösungsvorschläge für aktuelle Probleme in virtuellen Modellen ausprobieren können, lange bevor wir sie in der echten Welt zum Einsatz bringen.
In diesem Buch werden wir einige Beispiele für Schritte in diese Richtung kennenlernen. Ich möchte das anhand eines Blicks hinter die Türen des Complexity Science Hub Vienna tun, einer jungen wissenschaftlichen Einrichtung, die mit dem Ziel entstand, die Erforschung komplexer Systeme voranzutreiben, um unmittelbaren Sinn und gesellschaftlichen Nutzen aus Daten zu gewinnen und um so einen Beitrag in Richtung eines digitalen Humanismus leisten zu können. Gegründet haben ihn im Jahr 2015 die Technische Universität Wien, die Technische Universität Graz, die Medizinische Universität Wien und das Austrian Institute of Technology.
Im Wiener Palais Strozzi, dem Sitz des Complexity Science Hub, arbeiten wir an einer Art Flugsimulator für die Welt, nur dass wir anstatt von Flugzeugen Finanzsysteme, Gesundheitssysteme und sogar ganze Volkswirtschaften simulieren. Wir arbeiten dort zum Beispiel an einem virtuellen Modell der Wirtschaft Österreichs. So wie Eisenbahn-Fans in ihren Kellern Modelleisenbahnen bauen, die immer realistischer werden, so bauen wir unsere digitale Modellrepublik, die ebenso zunehmend realistischer wird.
Wir bauen sie mit Daten, indem wir verschiedene, anonymisierte Datensätze zusammenführen. Mit Datensätzen aus der Verwaltung, der Finanz, der Wirtschaft und der Bevölkerung bilden wir in unserem Modell die Akteure sowie deren Interaktionen untereinander ab.
In diesem Modell steht alles mit allem über verschiedene Netzwerke miteinander in Beziehung. Ganz ähnlich wie im Pardus-Spiel. Firmen zahlen Gehälter, Haushalte deponieren Überschüsse auf der Bank. Firmen und Haushalte nehmen Kredite auf, Haushalte konsumieren Produkte der Firmen, Firmen liefern sich gegenseitig Waren und Banken verleihen Geld an andere Banken am Interbanken-Markt.
Menschen und Firmen stehen durch Kreditnetzwerke, Produktionsnetzwerke, Zuliefernetzwerke oder Arbeitgeber-Arbeitnehmernetzwerke in Beziehung. Netzwerke können oft aus Datenbanken rekonstruiert werden. Sie ändern sich von Tag zu Tag. Unser Ziel ist es, eine virtuelle Republik zu basteln, mit der wir spielen können, in die wir von außen eingreifen können, die wir virtuellen Schocks aussetzen können und wo wir Dinge ausprobieren können, wie es in der echten Welt nie und nimmer möglich wäre. Wissenschaft bekommt damit eine neue, fast spielerische Dimension, mit unmittelbarem Nutzen für die Gesellschaft und ihre Entscheidungsträger.
Mit solchen Modellen können wir in Zukunft versuchen, eine neue Dimension von Fragen zu beantworten, die sich bisher jeder Beantwortung entzogen haben. Unter anderem lässt sich dann berechnen, wie ein stabiles System aussehen muss, wodurch es instabil wird, und wie wir es bestmöglich schützen können. Wir können erstmals quantifizieren, was Stabilität wirklich ist, was Resilienz bedeutet, welche Schocks ein System aushält und welche zu groß sind. Wir lernen erstmals, wie Effizienz und Stabilität miteinander in Zusammenhang stehen.
Mit den Möglichkeiten, die die Wissenschaft komplexer Systeme in Kombination mit Data Science und Methoden der Künstlichen Intelligenz derzeit erschließen, eröffnen sich auch der Politik neue Dimensionen. Der gebräuchliche Fachausdruck dafür ist evidence-based governance, evidenzbasierte Politik. Derzeit werden Entscheidungen in der Politik oft subjektiv getroffen, und das aus gutem Grund: Einzelne Menschen, egal wie intelligent sie sind, können die Vielzahl von Zusammenhängen, die in komplexen Systemen und ihren Netzwerken typischerweise auftreten, nicht erfassen. Noch viel weniger können sie die Konsequenzen vorhersehen, die eintreten, wenn sie an solchen Systemen etwas verändern.
Entscheidungsträger haben dank ihrer Erfahrung oft ein gutes Gefühl dafür, was ihre Entscheidungen bewirken könnten. Sobald sie ihre Entscheidungen getroffen haben, können sie aber auch nur darauf hoffen, dass sie auch wie beabsichtigt funktionieren. Bis heute hatten wir praktisch keine Möglichkeit, das Funktionieren von Entscheidungen vorab zu testen oder die zu erwartenden, nicht beabsichtigten Nebenwirkungen systematisch im Voraus sichtbar zu machen.
Die Vision ist, dass in Zukunft Entscheidungsträger auf die digitale Kopie eines Landes als Werkzeug zurückgreifen können, um die Auswirkungen von Entscheidungen, Regulierungen oder Gesetzen virtuell durchzuspielen. Sie können ausprobieren, ob eine Entscheidung wirklich die geplanten Ziele erreichen würde, und ob sie zu unerwarteten Folgen führen würde, an die vorher niemand gedacht hatte.