Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner

Die Zerbrechlichkeit der Welt - Stefan Thurner


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nicht unmittelbar aus dessen Bauteilen erschließen, nennt man Emergenz. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »herauskommen« und bezeichnet das Hervorkommen von neuen Eigenschaften eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Der Ameisenstaat und das Fliegenhirn sind Beispiele für Emergenz. Ein weiteres, offensichtliches Beispiel dafür ist Massenpanik, die in großen Menschenmengen entstehen kann. Ein Verhalten, das einzelne Menschen allein nicht zeigen. Oder das Verhalten von Fischen oder Vögeln in Schwärmen. Man nennt Phänomene, die aus den sogenannten Mikroeigenschaften seiner Bauteile in Kombination mit deren Wechselwirkungsnetzwerken entstehen, die Makroeigenschaften. Manchmal wird Emergenz als das Gegenteil vom erwähnten Reduktionismus gesehen, bei dem versucht wird, »das Ganze« durch das Verständnis der Elemente allein zu verstehen. Bei komplexen Systemen ist das eben nicht möglich.

      MAKROEIGENSCHAFTEN

      Komplexe Systeme bilden häufig sogenannte Makroeigenschaften aus. Sie können dabei unterschiedliche Systemzustände einnehmen. Ein einfaches, nicht komplexes Beispiel für eine Makroeigenschaft sind die Aggregatzustände von Wasser. Chemisch gesehen ist Wasser immer eine Ansammlung von Molekülen, die meist aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom bestehen. Je nach Temperatur bewegen sich diese Moleküle unterschiedlich schnell und sind dadurch unterschiedlich stark aneinander gebunden. Ist es kalt, ist Wasser fest, bei Raumtemperatur ist es flüssig, und durch Erhitzen wird es irgendwann dampfförmig. Es ist immer dasselbe Molekül – mit drei grundverschiedenen Makroeigenschaften.

      Ein anderes Beispiel für eine Makroeigenschaft ist der Zustand einer Volkswirtschaft. Es gibt einen Systemzustand, in dem die Wirtschaft boomt, in dem Vollbeschäftigung herrscht und Überschüsse produziert werden, die umverteilt werden können. Alle haben Arbeit und den meisten geht es gut. Auch für jene, die nicht arbeiten, ist genug vorhanden. Dieselben Menschen mit exakt denselben Eigenschaften und denselben Fähigkeiten können sich aber auch in einem anderen Systemzustand befinden, in dem die Wirtschaft am Boden liegt, viele arbeitslos sind und wo so wenig produziert wird, dass die meisten verarmt sind. In diesem Zustand macht es für niemanden mehr Sinn, die Initiative zu ergreifen, und niemand investiert mehr. Diese Makroeigenschaft »Krise« kann über lange Zeit bestehen bleiben.

      Zwischen den verschiedenen Systemzuständen oder Makroeigenschaften gibt es häufig abrupte Übergänge, die sogenannten Kipp-Punkte oder Tipping Points, die wir im ersten Kapitel kennengelernt haben. Bei Wasser liegen diese bei 0 und 100 Grad Celsius, wo der radikale Übergang von fest zu flüssig und von flüssig zu gasförmig stattfindet. In der Wirtschaft kann es ein äußerer Anlass sein, wie zum Beispiel eine Finanzkrise, die zu einem Übergang von einer Boom- in eine ausgedehnte Depressionsphase führen kann. Hier ist es schon weitaus weniger klar, wo sich die Kipp-Punkte befinden und welche Faktoren zum Kollaps führen.

      Zu den wichtigsten Makroeigenschaften von komplexen Systemen zählen Eigenschaften wie: Stabilität, Robustheit, Effizienz, Resilienz und Anpassungsfähigkeit. Ein System ist stabil und robust, wenn es einen Schock aushält und übersteht, ohne in seiner Funktion stark beeinträchtigt zu werden. So weit so logisch. Das hat noch wenig mit Komplexität zu tun. Schwieriger wird es beim Begriff der Effizienz. Ein System ist effizient, wenn es gut funktioniert in dem Sinn, dass der Output in Relation zum Input hoch ist. In komplexen Systemen hängt Effizienz oft stark mit den Details der zugrundeliegenden Netzwerke zusammen.

      Zum Beispiel hängt der Output einer Firma stark damit zusammen, wie sie organisiert ist. Wie hierarchisch ist sie, wie sehen die Interaktionsnetzwerke zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus? Wie sind die Produktionsabläufe und die Verwaltungsstrukturen in Netzwerken organisiert, wie beeinflussen diese die Motivation und Produktivität der einzelnen MitarbeiterInnen? Wie stabil sind die Zuliefernetzwerke und wie verlässlich sind die internationalen Handelsnetzwerke?

      ANPASSUNGSFÄHIG UND RESILIENT

      Die meisten komplexen Systeme sind anpassungsfähig und brechen nicht gleich beim geringsten Schock zusammen. Die Anpassungsfähigkeit kommt daher, dass sich die Netzwerke in den Systemen aufgrund von äußeren Störungen verändern können. Anpassungsfähigkeit führt dann zu dem, was Resilienz genannt wird. Ein System ist resilient, wenn es durch einen Schock zwar getroffen wird und zunächst nicht mehr so gut funktioniert wie zuvor, dass es aber die Fähigkeit besitzt, sich quasi selbst zu reparieren, und nach einiger Zeit wieder zu einer Funktionsfähigkeit wie vor dem Schock kommt.

      Resilienz konnte zum Beispiel während des Lock-Downs in der Corona-Krise beobachtet werden. Durch einen Lock-Down wird etwa das Produktionsnetzwerk stark in Mitleidenschaft gezogen, weil viele nicht mehr arbeiten gehen können und dadurch Lieferketten unterbrochen werden. Die Produktion und die Wirtschaftsleistung sinken. Nach dem Lock-Down funktionieren die Links in den verschiedenen Produktionsnetzwerken aber wieder. Vielleicht hat man in der Zwischenzeit sogar überlegt, verschiedene Dinge besser oder anders zu machen. Letzteres verändert dann das Produktionsnetzwerk und damit die Gesamtfunktionsweise des Systems. Wenn viele dieser kleinen Änderungen im Netzwerk gleichzeitig passieren, kann es zu massiven sprunghaften Änderungen kommen, zu Systemumbrüchen oder Phasenübergängen. Tipping Points wurden dann erreicht.

      TIPPING POINTS

      Das bringt uns wieder zurück zu den Tipping Points. Erstmals verwendet wurde der Begriff Mitte der 1950er-Jahre bei Untersuchungen zur Rassentrennung, heute wird er häufig im Zusammenhang mit Klimamodellen und dem Kippen von Ökosystemen verwendet. Als ein Kipp-Punkt im Zusammenhang mit der Klimakrise gilt zum Beispiel das Auftauen von Permafrost-Böden. Eines der zentralen Probleme bei der Erforschung komplexer Systeme ist das Auffinden solcher Kipp-Punkte, beziehungsweise – noch grundlegender – jener Parameter, die zu abrupten Veränderungen des Gesamtsystems führen. Bei vielen sozialen und ökonomischen Systemen ist derzeit noch völlig unklar, welche Faktoren das sind. In der Physik, also bei »einfachen« Systemen, sind die Tipping Points, oder »Phasenübergangsparameter« hingegen oft gut bekannt, etwa der Gefrier- oder Siedepunkt.

      Eine weitere Eigenschaft von komplexen Systemen ist, dass sie manchmal extrem sensibel auf kleine Veränderungen reagieren. Sie können also auch das Gegenteil von robust und stabil sein. Das heißt, dass eine kleine Änderung einer Input-Größe einen riesigen Effekt auf den Output hat, dass er sich vielleicht sogar sprunghaft ändert.

      Aus der Chaostheorie ist der sogenannte »Schmetterlingseffekt« bekannt. Dieser besagt, dass eine minimale Änderung eines Parameters, wie zum Beispiel das Flattern eines Schmetterlings in Brasilien, zu riesigen Auswirkungen führen kann, wie etwa zu einem Tornado in Texas. Der Grund für diese großen Auswirkungen kann entweder an der nicht-linearen Natur der komplexen Systeme liegen oder stammt von einem Schneeballeffekt, einer Kettenreaktion.

      Der Ausfall einer Komponente in einem komplexen System kann den Ausfall mehrerer anderer Komponenten verursachen. Die Ansteckung einer Person mit einem Virus bedeutet, dass diese Person mehrere weitere Personen anstecken kann. Das steckt hinter der Reproduktionszahl »R«, die in der Corona-Krise bekannt geworden ist. Andere komplexe Systeme wiederum können anpassungsfähig und resilient gegenüber Störungen sein, sodass selbst größere Veränderungen einzelner Parameter kaum merkliche Reaktionen im Netzwerk hervorrufen. Störungen werden quasi vom Netzwerk absorbiert, indem es sich an Veränderungen anpasst, es ist adaptiv.

      Die wenigsten komplexen Systeme sind von einem Erfinder oder einem Ingenieur entworfen worden, oder wurden von einem intelligenten Designer geschaffen. Sie schaffen sich und funktionieren scheinbar von selbst, ohne äußeres Zutun. Sozialwissenschaftler nennen dieses Phänomen spontane Ordnung. Sie tritt zum Beispiel bei sogenanntem Herdenverhalten auf, bei dem eine Gruppe von Personen ihre Aktionen ohne zentrale Planung koordiniert. Wenn etwa alle gleichzeitig dieselben Aktien kaufen oder alle zugleich in Panik geraten.

      In den Naturwissenschaften spricht man von Selbstorganisation, etwa wenn sich Moleküle scheinbar von selbst zu einer Schneeflocke anordnen oder wenn Ameisen einen Staat errichten. Damit Selbstorganisation stattfinden kann, sind natürlich bestimmte Eigenschaften der Bauteile und der Interaktionsregeln notwendig. Kennt man diese, kann man die emergenten Eigenschaften des gesamten Systems vorhersagen. Die Wissenschaft


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