Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner
nur KomplexitätsforscherInnen, kennt die Momente, in denen sich komplexe Systeme ganz anders verhalten, als man es erwarten würde. Wer vor einigen Jahren versucht hat, einem Stau in einer Stadt zu entkommen, versteht die Schwierigkeit. Wenn ein Navi (das damals noch keine Alternativrouten angeben konnte) einen Stau auf einer Strecke vorhersagt, denke ich natürlich sofort darüber nach, auf eine andere Route auszuweichen. Ich weiß aber auch, dass alle anderen vermutlich dasselbe denken und eventuell ebenso versuchen werden, auszuweichen. Das kann dazu führen, dass der Großteil der Leute die alternative Route wählt und sich der ursprünglich vorhergesagte Stau auflöst, sodass letztlich die beste Lösung ist, direkt in den angekündigten Stau zu fahren. Das ist mit den heutigen Navis natürlich nicht mehr der Fall.
Manchmal ist man mit der einigermaßen verstörenden Situation konfrontiert, dass man versucht, ein komplexes System zu regulieren, und es benimmt sich wie verhext. Wenn es zum Beispiel darum geht, den Verkehr einer Stadt zu kontrollieren. Man beginnt mit dem Aufstellen einiger Ampeln und stellt fest, dass tatsächlich alles besser wird. Der Verkehr fließt besser. Also fährt man fort mit dem eingeschlagenen Weg der Optimierung. Man kommt dann oft zu dem Punkt, an dem, wenn man die Optimierung konsequent weiterführt, das System schlagartig schlechter wird. Eine Ampel zu viel und der Verkehr beginnt an vielen Stellen der Stadt gleichzeitig zu stocken.
Diese Ampel, die zu viel ist, markiert den Tipping Point. Ab da macht das komplexe System eventuell das genaue Gegenteil von dem, was man eigentlich will. Jeder einzelne Schritt in der verbesserten Optimierung macht Sinn, doch das Gesamtergebnis ist fatal.
Ein anderes Beispiel: Wenn man eine Tierart nach der anderen ausrottet, zum Beispiel durch Überfischung eines Sees, stört man die Nahrungskette der verbleibenden Arten. Angenommen, diese ändern ihren Menüplan und fressen etwas Anderes. Das kann für eine gewisse Zeit gut gehen, aber – wie das Amen im Gebet – kommt der Punkt, an dem das nicht mehr möglich ist, und das Ökosystem See kippt. Fast alle Arten verhungern. Es kann Jahrzehnte dauern, bis sich das Ökosystem wieder erholt.
ZERBRECHLICHKEIT
Dieses Buch handelt von der Zerbrechlichkeit der Welt. Davon, wie komplexe Systeme, die wir als Gesellschaft notwendig brauchen, kollabieren können. Mit der Wissenschaft komplexer Systeme verstehen wir erstmals besser, warum wir dem Thema Kollaps bisher meist hilflos gegenübergestanden sind, und uns System-Zusammenbrüche aus heiterem Himmel erwischt haben. Wir verstehen, wieso ohne Computer und ohne Daten ein Verständnis dieser Phänomene bisher einfach nicht möglich war. Wir verstehen aber auch, dass weder Computer noch Daten alleine ausreichen werden, um komplexe Systeme zu durchschauen.
Die Menge der weltweit gespeicherten Daten ist gigantisch und sie wächst weiterhin exponentiell. Die verfügbaren Rechenkapazitäten setzen uns ebenso quasi keine Grenzen mehr. Auch sie sind in den vergangenen Jahren exponentiell gewachsen und wachsen weiter. Der Flaschenhals ist und bleibt das Verständnis der komplexen Systeme. Nämlich das Verständnis, unter welchen Bedingungen sich Netzwerke umgestalten und wie Interaktionen Bauteile verändern, die wieder Netzwerke umgestalten und so weiter. Als Konsequenz dieser sogenannten co-evolutionären Dynamik gibt es Punkte, an denen das System rapide andere Makrozustände einnehmen kann. Dieser Übergang offenbart sich oft als Kollaps. Die dahinterliegende Dynamik zu verstehen, bildet einen Kernbereich der Komplexitätsforschung.
Nicht nur am Complexity Science Hub Vienna arbeiten wir daran, dieses Verständnis zu verbessern. Wir sind selbst Teil eines internationalen Netzwerks von Komplexitätsforschungszentren, deren Knotenpunkte unter anderen das Santa Fe Institute in New Mexico, das Institute of New Economic Thinking in Oxford, die Arizona State University und das Forschungsinstitut IFISC in Palma de Mallorca bilden. Vielen Forschern in diesem Netzwerk ist bewusst, dass – so gerne wir auch im wissenschaftlichen Elfenbeinturm sitzen – die Fortschritte der Wissenschaft eventuell mitentscheidend für das Überleben unserer Kultur sein könnten.
• Komplexe Systeme umgeben uns, wo immer wir hinsehen.
• Sie bestehen aus dynamischen Netzwerken.
• Netzwerke beeinflussen die Bauteile und umgekehrt.
• Dadurch entsteht eine Vielzahl von emergenten Phänomenen.
• Ohne Verständnis der Netzwerke bleiben diese unverständlich.
• Komplexe Systeme sind ohne Computer und Big Data nicht beherrschbar.
• Sie sind selbst-organisierend und resilient.
• Die Wissenschaft komplexer Systeme ist auch eine von Kollaps und Zusammenbruch.
• Kein Wissenschaftszweig hat so wie sie die Möglichkeit, System-Risiken zu erkennen und Tipping Points zu identifizieren.
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