Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book). Urban Fraefel

Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book) - Urban Fraefel


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zwanglose Gelegenheit ergibt.Trainingsvarianten kombinierenDie folgenden Trainingsvarianten können Sie in der Reihenfolge ändern oder auch kombinieren.Die Lernprozesse und die Menschen sehenDie Vorgänge, Schwierigkeiten und Erfolge rund um das Lernen sind das eine, aber sehen Sie auch die Menschen, d. h. Eigenheiten, Stärken und Schwächen dieser Person, die Motive, Frustrationen, ja vielleicht auch Krisen. Urteilen Sie nicht, sondern nehmen Sie einfach wahr und fühlen Sie sich in die Person hinein. Ein Satz, dabei hilft: «Wie ginge es mir an seiner bzw. ihrer Stelle?»1Nicht gemeint ist hier das sogenannte «Hospitieren», bei dem eine andere Lehrperson bei deren Arbeit beobachtet wird.Beobachten und Zuhören:Trainieren beim eigenen Unterrichten1Versuchen Sie durch Beobachten – ohne Nachfragen – herauszufinden, ob die Klasse dem Unterrichtsthema hat folgen können.Versuchen Sie genau zu identifizieren, wer Schwierigkeiten hat und wer unterfordert ist. Machen Sie sich dazu Notizen und überprüfen Sie zu einem späteren Zeitpunkt, inwieweit Sie mit ihrer Einschätzung richtig lagen.Beobachten und Zuhören:Trainieren beim Unterrichten von anderenInformieren Sie zuerst die Lehrperson, dass Sie sich im Klassenzimmer bewegen werden.1Fragen Sie die Lehrperson, was sie in dieser Stunde beobachten will. Beobachten Sie dann genau dasselbe und vergleichen Sie Ihre Wahrnehmungen nach der Stunde.Versuchen Sie herauszufinden, was übersehen wurde, und wie Sie das in einer weiteren Stunde verhindern können.2Blicken Sie in die Klasse und achten Sie auf Schülerinnen und Schüler, die Ihnen eigentlich nicht auffallen, die sich nicht bemerkbar machen und wenig reden.Beobachten Sie genau diese Schülerinnen und Schüler während der nächsten Arbeitsphase, achten Sie auf ihre Äusserungen und versuchen Sie herauszufinden, wo sie bezüglich des Unterrichtsthemas stehen.2Beobachten Sie, welche Schülerinnen und Schüler aufmerksam oder abgelenkt oder abwesend sind, und achten Sie darauf, wann dies jeweils ändert.Stellen Sie Vermutungen an, was die Veränderungen in der Aufmerksamkeit beeinflusst, und besprechen Sie dies nachher mit der Lehrperson.3Versuchen Sie herauszufinden, welche Schülerin, welcher Schüler Ihre Unterstützung jetzt am meisten braucht.3Beobachten Sie eine Schülerin, einen Schüler über eine längere Zeit, hören Sie, was sie bzw. er sagt und versuchen Sie sich in sie bzw. ihn hineinzuversetzen.Beobachten, Zuhören und Diagnostizieren:Trainieren bei einzelnen Schülerinnen und SchülernSie arbeiten mit einzelnen Schülerinnen und Schülern z. B. in einer individuellen Arbeitsphase oder beim Nachhilfeunterricht oder sogar, wenn Sie zuhause Ihren eigenen Kindern oder Nachbarkindern helfen.Dieses Setting ist besonders geeignet, um das Zuhören zu üben.1Bitten Sie die Schülerin oder den Schüler, möglichst genau zu erklären, wo das Problem ist.Lassen Sie sich erklären, was er bzw. sie schon weiss zu diesem Thema.Reden Sie möglichst wenig.2Üben Sie die Einordnung in die vier Ebenen nach Hattie und Timperley. Versuchen Sie dann, im Gespräch behutsam herauszufinden, ob Sie mit Ihrer Vermutung richtig liegen.3Wenn Sie verdeckte oder offene Kritik an der Schule, dem Unterricht, den Aufgaben, den Lerninhalten und auch an Ihnen selbst hören, dann reagieren Sie auf keinen Fall defensiv, verteidigen Sie nichts; nehmen Sie es als «Zustandsbeschreibung» der Lernenden einfach zur Kenntnis und stellen Sie sich vor, wie es Ihnen an deren Stelle ergehen würde. Für allfällige Konsequenzen lassen Sie sich Zeit zum Überlegen.Analysieren und Diagnostizieren:Trainieren mit DokumentenUntersuchen Sie Arbeiten von Schülerinnen und Schülern, z. B. Prüfungen und Tests, Arbeitsblätter, Notizen, Aufsätze, Zeichnungen, Übungshefte usw. Wenn möglich, legen Sie mehrere Dokumente einer einzigen Person nebeneinander.–Versuchen Sie, die Gedankengänge und Befindlichkeiten beim Erstellen der Dokumente nachzuvollziehen.–Versuchen Sie, den Entwicklungsbedarf zu identifizieren.–Ordnen Sie diesen den vier Ebenen nach Hattie und Timperley zu.–Machen Sie sich ein ganzheitliches Bild von dieser Person.Beobachten und Analysieren:Trainieren mit VideosFolgen Sie der Anleitung zur Arbeit mit Videos (Infoblock «Das Beobachten mit Hilfe von Videos trainieren» weiter vorne in diesem Kapitel) und halten Sie sich genau an die vier Schritte.

      Gründliche Analysen schärfen Wahrnehmung und stimmige Intuition

      Für die Schulung intuitiver und treffsicherer Diagnosen braucht es den analytischen Blick, mit dem die Dinge aus Distanz betrachtet werden, etwa in einer nachträglichen Videoanalyse oder einer Rückschau auf den Unterricht, allein oder mit weiteren Studierenden oder Lehrpersonen. In der Lehrpersonenbildung sind Begleitseminare zu Praktika der bevorzugte Ort für systematische Analysen und Verknüpfung mit Wissensbeständen. Die Analysen erfolgen zum Teil streng regelgeleitet, um Einseitigkeiten und blinde Flecken der Wahrnehmung aufzudecken und um gegebenenfalls zu gleichermassen unerwarteten wie erhellenden Einsichten zu gelangen.

      Anders ausgedrückt: Um professionelle Praktiken der Lernunterstützung aufzubauen, braucht es auch

      –das sorgfältige Analysieren von Spuren des Unterrichts – Videos, Texte, Schülerarbeiten, Berichte –, idealerweise zusammen mit anderen Lehrpersonen oder Studierenden, und

      –den Rückgriff auf Einsichten Dritter – damit ist das gemeint, was Studierende gemeinhin als «Theorie» bezeichnen und in Wahrheit ein weitläufiger Wissens-, Erkenntnis- und Erfahrungsvorrat ist. Es wäre dumm, diesen nicht zu nutzen.

      Dies alles dient der Fähigkeit, im Unterricht zeitnahe diagnostische Einschätzungen zu machen. Die Wahrnehmung muss geschärft und trainiert werden; man lernt, Informationen schnell und intuitiv zu deuten, zu priorisieren und zu verarbeiten, um dann angemessen reagieren zu können. Kurz: Dies alles trägt dazu bei, die professionellen Praktiken der Lernunterstützung aufzubauen, zu verbessern und wirkungsvoller zu gestalten.

      Es liegt in der eigenen Verantwortung der Studierenden bzw. der Lehrpersonen, an Praktiken zu arbeiten, die professionell sind und die bei Schülerinnen und Schülern die erhofften Bildungswirkungen erzielen. Das vorliegende Arbeitsbuch will genau dies unterstützen: Selbst Verantwortung für die «Selbstprofessionalisierung» zu übernehmen.

      Feedbacks von Dritten als Leitplanken der professionellen Entwicklung

      Gut, wenn Lehrpersonen ihre eigenen Praktiken weiterentwickeln wollen. Aber man kann einen berechtigten Einwand vorbringen: Wie ist eigentlich sichergestellt, dass deren Praktiken am Ende auch professionell sind? Am Beispiel Diagnostizieren: Wird die Lehrperson die beruflichen Situationen angemessen interpretieren und die besten Schlüsse daraus ziehen? Zwar können Situationen ja immer unterschiedlich gedeutet werden – aber wie ist zu vermeiden, dass die Lehrperson offensichtlich falsche Schlüsse zieht, blinde Flecken hat oder kontraproduktiven Intuitionen folgt? Diese Bedenken sind ernst zu nehmen, zumal Lehrpersonen oft allein und ohne Rücksprachemöglichkeit handeln müssen.

      Der entscheidende Punkt ist, dass Professionalisierung nie ohne Feedback von anderen möglich ist, insbesondere in diesem Beruf. Ohne Feedbacks riskieren Lehrpersonen, dass sie ihre Praktiken in problematische Richtungen entwickeln oder sich sogar deprofessionalisieren. Paradoxerweise werden immer Praktiken aufgebaut – Lehrpersonen können nicht ohne Praktiken sein, wenn sie den täglichen beruflichen Herausforderungen nachkommen wollen. Die Frage ist, wer oder was die Entwicklung dieser Praktiken in eine erwünschte professionelle Richtung lenkt.

      Dieses Unterkapitel thematisiert nun die Steuerung des eigenen Lernens durch Feedbacks von Dritten, d. h. Feedback an die Lehrperson, bevor dann im nächsten Kapitel das Feedback von der Lehrperson für andere im Zentrum steht.

      Implizite Feedbacks von Schülerinnen und Schülern

      Mit impliziten Feedbacks sind nicht direkt ausgesprochene Feedbacks von Schülerinnen und Schülern gemeint. Auch solche Feedbacks können Wirkungen des eigenen Handelns spiegeln. Eine Schülerin, die verwirrt ist; eine Klasse, die apathisch erscheint; ein Kind, das nicht weiss, was es tun muss; ein Leistungstest, der verheerende Resultate liefert; Körperhaltungen, die die Befindlichkeit ausdrücken usw.

      Von Lehrpersonen wird erwartet, dass sie diese Signale zur Kenntnis nehmen und sie einordnen. Nicht jedes


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