Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book). Urban Fraefel
Bessere Einschätzungen durch mehr Engagement und Bescheidenheit
Engagement, um die Lernenden besser zu verstehen
Gerade wenig erfahrene Lehrpersonen und Studierende sind zwangsläufig so sehr mit ihrem Unterricht beschäftigt, dass sie sich nicht immer auf die Lernprozesse und Befindlichkeiten der Schülerinnen und Schüler einlassen können. Das ist zwar verständlich, aber dennoch ein Problem. Wer im Modus «Unterricht gestalten» ist, hat weniger den Blick für die Lernenden. Deshalb muss das Umschalten in den Modus «Lernprozesse gestalten» stetig bewusst vollzogen werden. Es ist Sache der Übung, des Willens und sogar der Berufsethik, immer auch die Perspektive der Lernenden einzunehmen.
Es ist beeindruckend, dass John Hattie, Autor der nach ihm benannten Metastudie (Hattie, 2009), nach Sichtung aller Teilstudien zum Schluss kommt, dass die engagierte Lehrperson der entscheidende Faktor für den Erfolg der Schülerinnen und Schüler ist.
Plädoyer für die engagierte Lehrperson
Im Schlusskapitel skizziert Hattie (2009) das Profil einer guten Lehrperson – für ihn eine Person, die auf das Lernen der Schüler/-innen einen günstigen Einfluss hat. Er stützt sich dabei auf eine Vielzahl von Wirkungsstudien insbesondere aus dem angelsächsischen Raum. (S. 238–239, Übersetzung Urban Fraefel, gekürzt)
1.Die Lehrperson ist einer der mächtigsten Einflussfaktoren aufs Lernen.
2.Die Lehrperson ist direktiv, beeinflussend, fürsorglich und voll von leidenschaftlichem Engagement für das Lehren und Lernen.
3.Die Lehrperson erkennt, was jede einzelne Schülerin, jeder einzelne Schüler denkt und weiss. Das erlaubt es ihr, weiterführende Erfahrungen und Einsichten zu ermöglichen.
4.Die Lehrperson hat vertieftes Wissen über die Sache, um sinnvolle und passende Feedbacks zu geben, damit jede Schülerin, jeder Schüler stetig Fortschritte macht.
5.Die Lehrperson kennt die Lernziele und Erfolgskriterien ihrer Stunden, und sie weiss, inwieweit sie diese Ziele mit allen Schüler/-innen erreichen kann. Sie weiss, was als Nächstes zu tun ist, um die gesetzten Ziele zu erreichen.
6.Die Lehrperson unterstützt unterschiedliche Denkwege (Konzepte, Alternativen); sie ermöglicht Verknüpfungen, damit die Schüler/-innen das Wissen und das Verstehen wieder und wieder aufbauen können. Nicht Wissen und Konzepte allein sind entscheidend, sondern deren Aufbau.
Weniger Selbstüberschätzung, Überwinden der unbewussten Inkompetenz
Klar, wer über 10 000 Stunden in der Schule gesessen hat, muss doch etwas von Unterricht verstehen – so denken viele Studierende. Paradoxerweise stimmt das überhaupt nicht, denn aus der Perspektive ihrer Erinnerungen an die Schule sehen sie nur einen kleinen Ausschnitt der Aufgaben der Lehrperson, und zudem nicht immer in bester Qualität. So prägen sich viele oberflächliche Klischees von Unterricht ein. In der Summe sind diese Erinnerungen nicht wirklich hilfreich, um als Lehrperson professionell zu handeln. Man nennt dieses Phänomen «unbewusste Inkompetenz» (siehe separater Infoblock).
So unangenehm, kränkend und manchmal schmerzlich diese Erkenntnis ist: Studierende haben zuerst einmal zu erkennen, wie anspruchsvoll es ist, den Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Sie müssen lernen einzugestehen, dass sie davon noch nicht viel verstehen.
Weiterführende Informationen und Materialien
Unbewusste Inkompetenz? Selbstüberschätzung bei Studienanfängern
Über mehrere Jahre hinweg untersuchten Hartmann und Weiser (2007) an der Universität Innsbruck, wie neu eintretende Studierende ihre eigenen Unterrichtskompetenzen einschätzten. Sie sollten zu folgender Aussage Stellung nehmen: «Mit genügend Zeit zur Unterrichtsvorbereitung könnte ich den Unterricht in den folgenden Fächern mindestens gleich gut wie meine ehemalige Lehrperson halten.» Die Ergebnisse waren sehr überraschend: Im Fachwissen hielten sich über 50 Prozent für kompetenter als ihre ehemaligen Lehrpersonen und bezüglich Fachdidaktik und Unterrichtsklima sogar über 70 Prozent.
Hartmann und Weiser (2007) deuteten das Ergebnis, indem sie auf den sogenannten Dunning-Kruger-Effekt verwiesen. Er besagt, dass inkompetente Menschen dazu tendieren, ihre Fähigkeiten systematisch zu überschätzen. Dieser Effekt wurde von den beiden amerikanischen Forschern in einer vielbeachteten Studie dargelegt und wissenschaftlich nachgewiesen (Kruger & Dunning, 1999); sie testeten drei Gruppen von Versuchspersonen je in einem Bereich: Einschätzung von humorvollen Situationen, logisches Denken und Grammatik. Anschliessend sollten die Versuchspersonen ihre Kompetenzen im jeweiligen Bereich einschätzen. Während die kompetenten Personen sich eher kritisch einschätzten, lagen die Selbsteinschätzungen der schwächsten Versuchspersonen immer sogar über dem Gesamtdurchschnitt; sie überschätzten sich also massiv. Erst nach einer umfangreichen Schulung im jeweiligen Bereich gelang es den Schwächsten, ihre Kompetenzen akkurat einzuschätzen.
Abbildung 13: Von der unbewussten Inkompetenz zur unbewussten Kompetenz. Die erste Beschreibung dieses Modells findet sich bei Broadwell (1969). Es ist seither in mannigfaltigen Formen dargestellt und variiert worden.
Hartmann und Weiser erkennen dieses Phänomen bei ihren Studierenden wieder: «In unserer Betreuung der Studierenden nach dem Eingangspraktikum erleben wir ähnliche Veränderungen. Die Studierenden schätzen nach dem Praktikum ihre Kompetenzen niedriger ein, da die Selbstüberschätzung in der Konfrontation mit der Praxis eine Korrektur erfahren hat, auch wenn diese schmerzhaft ausfallen kann. Ein von seinen Fähigkeiten im Seminar sehr überzeugter Student beschreibt beispielsweise nach dem Praktikum seine Erfahrungen so: ‹Ich finde es einen Wahnsinn, dass uns im Praktikum die Nase blutig gestossen wird.› Der manchmal schmerzhafte Prozess des Bewusstwerdens der eigenen Inkompetenz und der folgenden Lernprozesse lässt sich mit dem Modell der bewussten Inkompetenz erklären» (S. 39).
Aktivitäten und Anregungen | |
Ein «Selbstversuch» und einige Anregungen, über die engagierte Lehrperson nachzudenken | |
Was wissen Sie eigentlich über Ihre Schülerinnen und Schüler?Lassen Sie sich auf einen kleinen Selbstversuch ein und nehmen Sie sich etwas Zeit:Stellen Sie sich zwei Schülerinnen und Schüler von einer Klasse vor, die Sie kürzlich unterrichtet haben, und schreiben Sie genau auf, wie sie lernen und wo sie ihre Schwierigkeiten, Stärken und Eigenheiten haben.Schreiben Sie je etwa eine A4-Seite.Überlegen Sie anschliessend,–worauf Sie Ihre Einschätzungen stützen – auf Beobachtungen, Dokumente, Noten, Gespräche …–welche Informationen Ihnen fehlen,–ob Sie den beiden mit Ihrer Beschreibung gerecht geworden sind. | Bewusste InkompetenzIm vorherigen Text zu «unbewusster Inkompetenz» wird nahegelegt, dass das Bewusstmachen eigener Inkompetenz ein wichtiger erster Schritt zur Kompetenz sei.a. Gibt es Dinge, in denen Sie sich eigentlich kompetent fühlen, aber bei genauerem Hinsehen daran zu zweifeln beginnen? Was genau?b. Notieren Sie mindestens 10 Dinge zum Unterrichten, in denen Sie sich wirklich inkompetent fühlen. |
Falls sich die Gelegenheit dazu ergibt: Suchen Sie mit den beiden nächstens ein lockeres und eher informelles Gespräch, um mehr zu erfahren und allenfalls Ihre Einschätzung korrigieren zu können. Dies ist auf allen Stufen möglich, vom Kindergarten bis zur Gymnasialstufe. | Ordnen Sie sie je einer der folgenden Gruppen zu:–Klassenführung und Organisation |
Das Profil einer engagierten LehrpersonIm Kasten «Plädoyer für die engagierte Lehrperson» auf hier werden sechs zentrale Punkte zitiert, die nach John Hattie zum Profil der engagierten Lehrperson gehören.1.Gehen Sie mit den Punkten 1–4 einig? Wenn nein, warum nicht? Notieren Sie Ihre Zustimmung und Ihre Vorbehalte, z.B. in Ihrem «Handbuch», und diskutieren Sie darüber mit Peers oder Fachpersonen.2.Falls Sie bei Punkt 2 Vorbehalte haben: Nehmen Sie nochmals Stellung, nachdem Sie das Kapitel |