Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book). Urban Fraefel

Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book) - Urban Fraefel


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Einwände mit einer Fachperson zu diskutieren.Notieren Sie in Stichworten, in welcher Form Ihnen die Verschriftlichung am nützlichsten erscheint.

      Kapitel 3

      Das individuelle Lernen unterstützen

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      Lehrpersonen haben einen Bildungsauftrag, und dazu gehört vor allem, dass sie die jungen Menschen in ihrer Entwicklung weiterbringen, dass sie jeder Schülerin, jedem Schüler Fortschritte ermöglichen. Lernende brauchen Lehrpersonen, die erkennen, wo Unterstützung nötig ist, wie die Lernenden gefördert werden können und wie man jenen hilft, die etwas nicht verstanden haben oder entmutigt sind.

      Die Lehrpersonen benötigen deshalb die zentralen Praktiken der Lernunterstützung – insbesondere die anspruchsvollen Praktiken des Diagnostizierens und des Feedbacks, die im Schulalltag eminent wichtig sind.

      In diesem Kapitel werden diese Praktiken vorgestellt, beschrieben, diskutiert und vertieft.

      Von «Unterricht gestalten» zu «Lernprozesse gestalten»

      Zentrales Ziel der Schule und des Unterrichts sind die Fortschritte der Schülerinnen und Schüler – das dürfte unbestritten sein. Auch wenn dieses Ziel selbstverständlich ist, gerät es im schulischen Alltag bisweilen aus dem Blick. Warum ist das so?

      Seit jeher haben Lehrpersonen eine ihrer Hauptaufgaben in der Gestaltung des Unterrichts gesehen. Die zugrundeliegende Überlegung lautet: «Wenn der Unterricht gut ist, lernen die Schülerinnen und Schüler etwas.» Das mag meist stimmen, dagegen ist nichts einzuwenden. Der «Gute Unterricht» ist gewissermassen das Medium, mit dem eine fähige Lehrperson das Lernen der Schülerinnen und Schüler unterstützen kann.

      Gleichwohl hat dieser starke Fokus auf «Guten Unterricht» auch eine problematische Seite:

      Gut gestalteter Unterricht ist nicht das Ziel, sondern ein wichtiges Mittel zum Zweck. Ziel ist, wie schon gesagt, der Fortschritt der Schülerinnen und Schüler. Auch wenn eine Lehrperson konzentriert den Unterricht vorbereitet und gestaltet, geht es eigentlich nicht um den Unterricht als solchen, sondern die Lehrperson wird alles daran setzen, dass die Schülerinnen und Schüler weiterkommen, etwas dazulernen, etwas besser können oder tiefer verstehen. Unterricht ist kein Selbstzweck, sondern soll Wirkung zeigen. Um es pointiert auszudrücken: Die vordringliche Frage ist nicht so sehr «Wie gestalte ich den Unterricht?», sondern «Wie gestalte ich die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler?».

      Selbstverständlich tragen zahlreiche Faktoren zu erfolgreichen Lernprozessen der einzelnen Schülerinnen und Schüler bei; entsprechende Praktiken werden in jedem Kapitel dieses Buchs thematisiert. Dieses Kapitel handelt nun davon, wie Lehrpersonen die individuellen Fortschritte der Schülerinnen und Schüler unterstützen können.

      Alle lernen anders – Lernen ist immer individuell

      Schule ist so zu gestalten, dass sich alle in ihrer eigenen Weise entwickeln können. In diesem Kapitel liegt deshalb der Schwerpunkt auf der individuellen Begleitung der Schülerinnen und Schüler.

      Keine zwei Menschen lernen gleich – das geht bisweilen vergessen: Vorwissen, Interessen, Konzentrationsfähigkeit, sprachliche Kenntnisse, Auffassungsvermögen, Gedächtnis und vieles mehr sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Die grosse Herausforderung ist es, dass die Zeit in der Schule für alle ertragreich ist und für niemanden vertan; dass alle etwas mitnehmen können – nicht nur generell, sondern eigentlich jeden Tag, jede Stunde!

      Dieses «Recht auf Lernen» muss die Schule gewährleisten. Der Blick richtet sich daher auf die individuelle Entwicklung und auch auf die Unterschiede der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Wenn man sie als unverwechselbare Individuen wahrnimmt und erkennt, wo sie im Moment stehen, kann man sie individuell begleiten und ihnen zum nächsten Schritt verhelfen. Im englischen Sprachraum hat sich dafür die treffende Bezeichnung «scaffolding» etabliert (scaffold = das Stützgerüst).

      Man könnte einwenden, es brauche nicht allzu viel individuelle Begleitung, falls die Lehrperson die Dinge wirklich gut und überzeugend rüberbringt und für alle verständlich erklärt. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Tatsächlich können viele Schülerinnen und Schüler dem Unterricht durchaus folgen, wenn sie sich konzentrieren; sie können sogar Wissenslücken selbständig nacharbeiten oder sie können sich selber sinnvoll beschäftigen, wenn sie unterfordert sind. Anders ausgedrückt: Sie können das Angebot eines guten Unterrichts für sich nutzen. Es stimmt: Die Lehrperson kann darauf vertrauen, dass manche Schülerinnen und Schüler die Lernschwierigkeiten selber überwinden können oder sich bei Unterforderung selber zusätzlich herausfordern. Aber nicht alle sind dazu imstande, so gut der Unterricht auch sein mag. Für viele Lernprozesse brauchen die Schülerinnen und Schüler ein Gegenüber, das sie herausfordert, Schwierigkeiten und Potenzial erkennt und im Bedarfsfall geeignete Unterstützung, Förderung oder neue Herausforderung anbietet.

      Die Lehrperson ist mitverantwortlich, dass gelernt wird

      In der schulischen Tradition ist lange Zeit die Vorstellung fest verwurzelt gewesen, dass die Lehrperson einen fachlich richtigen, klaren und nachvollziehbaren Unterricht gestalten soll und dass es in der Verantwortung der Schülerinnen und Schüler liegt, aus diesem Angebot einen Nutzen zu ziehen. Diesem Ansatz liegt die Vorstellung zugrunde, dass man nicht wirklich beeinflussen könne, was gelernt wird; die Aufnahme- und Lernfähigkeiten der Lernenden seien wenig veränderbar; entscheidend seien die kognitiven Fähigkeiten, die Anstrengungsbereitschaft und der «Fleiss» der Schülerinnen und Schüler, und dies alles liege nicht in den Händen der Lehrperson.

      Aber nur genutzte Angebote haben Wirkung. Deshalb hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend die Überzeugung durchgesetzt, dass die Lehrpersonen auch eine Mitverantwortung tragen, ob und wie das Lehrangebot genutzt wird. «Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für Lehren und Lernen» heisst sinnigerweise der erste von sechs Leitsätzen des LCH (Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz) in seinem Berufsleitbild von 2008.

      Heute geht man in der Schule allgemein davon aus, dass einerseits das Angebot optimal zu gestalten ist und dass anderseits die Nutzung des Angebots durch die Schülerinnen und Schüler zu fördern und zu unterstützen ist. Ein wichtiges Instrument ist dabei die individuelle Lernunterstützung der Schülerinnen und Schüler (vgl. Kasten «Angebots-Nutzungs-Modell»).

      Kurz: Eine professionelle Lehrperson kann nicht nur gut vermitteln, sondern sie unterstützt die Lernenden auch aktiv darin, den Zugang zu den Lerngegenständen zu finden.

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       Quelle: https://books.google.com/ngrams/

       Weiterführende Informationen und Materialien

       Es nützt nur, was genutzt wird: Angebots-Nutzungs-Modell

      Die Lehr-Lern-Forschung der letzten Jahrzehnte hat zahlreiche Befunde geliefert, dass Lernfortschritte wesentlich von der Nutzung der Lernangebote abhängen. Die Zusammenhänge von Angebot und Nutzung werden oft in sogenannten «Angebots-Nutzungs-Modellen» dargestellt, wie untenstehende Abbildung zeigt.

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      Abbildung 5: Das Angebots-Nutzungs-Modell.


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