Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book). Urban Fraefel

Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book) - Urban Fraefel


Скачать книгу
Blick. Es bildet aber treffend die wesentlichen zwei Dimensionen der formativen Evaluation ab:

      –Von oben nach unten gelesen zeigt es, dass alle – Lehrperson, Peers und individuelle Lernende – eine Verantwortung für das Lernen tragen. Alle sollen in ihren jeweiligen Funktionen aktiv und kooperativ zu den Lernerfolgen beitragen, und damit wird Lernen in der Klasse zu einem Gemeinschaftsprojekt.

      –Von links nach rechts gelesen zeigt es den «Standardprozess» bei der Lernbegleitung:

      Was soll überhaupt erreicht werden? (Ziele)

      Wo stehen wir jetzt bzw. wo sind Schwierigkeiten? (Stand jetzt)

      Was ist zu tun, damit es weitergeht? (Nächste Schritte).

      Hattie und Clarke (2018) richten sich mit einem Appell direkt an die Lehrpersonen. Sie nennen fünf Faktoren, die bei der formativen Evaluation wichtig sind. Die Faktoren sind verblüffend einfach, einleuchtend und offenbar hoch wirksam bei der Verbesserung der Lernergebnisse. Inhaltlich sind sie fast deckungsgleich mit der Analyse von Black und Wiliam (siehe weiter oben), doch sie fügen einen weiteren Aspekt hinzu, wonach die formative Evaluation sich auf Motivation und Selbstwertgefühl auswirkt:

      1.effektives Feedback für die Lernenden anbieten,

      2.die Schülerinnen und Schüler aktiv am eigenen Lernen beteiligen,

      3.den Unterricht an die Ergebnisse der Evaluation bzw. der Diagnosen anpassen,

      4.den immensen Einfluss anerkennen, den die formative Evaluation auf die Motivation und das Selbstwertgefühl der Lernenden hat,

      5.die Lernenden befähigen, sich selbst einzuschätzen und zu verbessern.

      Diagnostizieren und Feedback sind also zentrale Bausteine der formativen Evaluation. Obwohl beide Hand in Hand gehen und sich gegenseitig bedingen, werden die beiden Themen der Übersichtlichkeit halber nacheinander behandelt.

      Diagnosen: Schnell und/oder gründlich?

      Schnelle und spontane Diagnosen können unscharf, willkürlich oder gar irrational sein und zu krassen Fehleinschätzungen führen. Hier tut sich für Lehrpersonen ein Dilemma auf:

      Einerseits muss die Lehrperson oft schnell eine Entscheidung treffen und rasch handeln. Ihre reflexartige Diagnose läuft dann Gefahr, oberflächlich und einseitig zu sein.

      Anderseits: Wenn die Lehrperson es genau wissen will, muss sie sich Zeit nehmen für eine eingehende, systematische Prüfung des Lernstands und allenfalls der Lernschwierigkeiten, etwa indem sie einen Test durchführt, die Arbeiten des Schülers analysiert oder ihn gründlicher befragt. Um diese letztere systematische Diagnostik geht es hier aber nicht, auch wenn diese bei einer summativen Beurteilung manchmal nützlich ist.

      Es stellt sich die Frage: Gibt es nur diese beiden Alternativen? Auf der einen Seite die spontane und bisweilen unbewusste Einschätzung (auch «implizite Diagnostik» oder «Alltagsdiagnostik» genannt), auf der anderen Seite die systematische Diagnose entlang definierter Verfahren und Kriterien (auch «explizite Diagnostik» oder «professionelle Diagnostik» genannt)?

      Nun, es sollte eine dritte Möglichkeit geben, denn allein die Vielzahl der professionellen Lehrpersonen, die sowohl schnell als auch treffend diagnostizieren können, beweist es. Es gibt eine Praktik des treffenden Diagnostizierens – Ruiz-Primo (2011) nennt sie auch «informelle formative Evaluation». Sie bildet das Bindeglied zwischen dem spontanen Urteil und dem analytischen Diagnostizieren. Der Schlüssel zu dieser Praktik ist eine geschärfte Intuition.

       Diagnostik, um Lehrpersonen wachzurütteln?

      A. Helmke (2009) stellt fest, dass die pädagogische Diagnostik ein Schattendasein führe, und empfiehlt, diese einzusetzen, damit die Lehrpersonen sich der Mängel ihres Unterrichts bewusst werden und ihn auf dieser Basis weiterentwickeln:

      «Warum sollte sich jemand, der mit sich und seinem Unterricht zufrieden ist, ändern? Deshalb ist es wichtig, so früh und so oft wie möglich Gelegenheiten des Abgleichs zu schaffen, um eine empirisch fundierte, realistische Standortbestimmung zu leisten, Selbsttäuschungen zu erkennen und blinde Flecken zu vermeiden. Mit anderen Worten: Unterrichtsdiagnostik benötigt einen ‹fremden Blick› auf den eigenen Unterricht, sei es in Gestalt von Unterrichtsbeobachtung, Videographie oder Schülerfeedback.»

      Der Ansatz der Praktiken professionellen Handelns hat dasselbe Ziel, aber der Weg verläuft in die Gegenrichtung: Zuerst legt die Lehrperson den Fokus darauf, die Qualität der Lernprozesse zu verbessern, und erst dann können im Bedarfsfall auch solche empirischen Verfahren zum Einsatz kommen.

      Intuitive Diagnosen – wichtig, anspruchsvoll, lernbar

      Den Begriff «Intuition» bringt man kaum mit einem zuverlässigen Verfahren in Verbindung, sondern eher mit «Bauchgefühl». Doch die hoch entwickelte Intuition kann sehr präzis, akkurat sein. Sie ist eine der wichtigsten Fähigkeiten einer Lehrperson, um im beruflichen Alltag professionell zu handeln, und notwendiger Teil aller Praktiken. Intuitive Feststellungen und Entscheidungen verlaufen in der Regel schnell, aber doch bewusst, und sie lassen noch Raum für kurzes Nachdenken. In vielen pädagogischen Situationen ist für aufwendige Prozeduren keine Zeit.

      Geübte Lehrpersonen erkennen schnell und präzis, wo der Schuh drückt oder wo sich eine Chance auftut. Dabei verlassen sie sich weitgehend auf ihr intuitives Urteil. Um es vorwegzunehmen: Treffende Intuitionen sind weder spontane Einfälle noch ein diffuses Bauchgefühl, noch entspringen sie einer angeborenen Gabe: «Intuition beruht auf Wissen, das sich durch implizite und explizite Lernprozesse entwickelt hat, sie ist jedoch keine angeborene Fähigkeit» (Harteis & Gruber, 2008, S. 75, dt. U. F.).

      Treffende Intuitionen sind etwas, was sich Menschen mit Wissen, Übung und Erfahrung antrainieren können: «Intuition is the result of learning» (Hogarth, 2010, S. 339). Intuitionen sind weder unbewusst noch irrational. Seit mehreren Jahrzehnten erforschen Psychologinnen und Neurologen, wie intuitive Urteile zustande kommen und wie zuverlässig sie sind. Zander et al. (2016) etwa sehen Intuition als Sensibilität für nicht bewusste Informationen, die zu produktiven Einsichten führen können. Die meisten Forscherinnen und Forscher sind sich einig, dass Intuition aus dem eigenen impliziten Wissen erwächst (Neuweg, 1999) und erlernt werden muss, wenn sie stimmig sein soll, insbesondere im Lehrberuf (z. B. Sipman et al., 2019). Je mehr also die Lehrperson über Wissen und Erfahrung zu analogen Situationen verfügt und daraus hat lernen können, desto zuverlässiger sind in der Regel die intuitiven Einschätzungen. Dabei sind Lernerfahrungen in konkreten beruflichen Kontexten absolut entscheidend für die Entwicklung von Intuition (Harteis & Billett, 2013).

      Trainierte und geschärfte Intuitionen verbinden Sicherheit und Flexibilität

      Gerade weil Unterricht komplex ist, brauchen Lehrpersonen Praktiken, die ihnen Sicherheit geben. Diese Praktiken dürfen aber nicht starr und schematisch sein, sondern sollten sich flexibel den Gegebenheiten anpassen:

      –Die Fähigkeit, intuitiv zu erkennen, zu entscheiden und zu handeln, vermittelt Sicherheit («Das kenne ich», «ich weiss, dass es so funktionieren kann», «das habe ich schon öfter als richtig bzw. falsch erkannt» usw.)

      –Aber zugleich lassen intuitiv gesteuerte Prozesse auch noch Raum für Innehalten und kurzes Nachdenken, d. h. intuitive Handlungssteuerung zeichnet sich durch Flexibilität aus.

       Weiterführende Informationen und Materialien

       Intuition – die Synthese von Reflex und Analyse

      Reine Routinen und reflexartige Reaktionen stehen in keinem guten Ruf; sie lassen kaum Zeit für das Nachdenken und für das situationsadäquate Handeln. In der Lehrpersonenbildung wird deshalb oft die bewusste Analyse als Alternative vorgeschlagen und praktiziert. Das ist mit Studierenden möglich und sinnvoll, weil Begleitformate und Zeit dafür


Скачать книгу