Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book). Urban Fraefel
erziehungswissenschaftlichem sowie lern- und entwicklungspsychologischem Wissen herstellen.
In den Grundzügen und mit Variationen können Studierende auch selbständig so vorgehen – allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Ein solch straffes Verfahren hat den Vorteil, dass es einen vor zu schnellen Urteilen bewahrt und einen zwingt, von den Lernenden her zu beobachten. Ohne diesen Perspektivenwechsel ist der Ertrag geringer, da es zentral um die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler gehen soll und nicht um den Auftritt der Lehrperson.
Gespräche führen – und vor allem zuhören
Schülerinnen und Schüler sind Ihre Partnerinnen und Partner. Mit ihnen haben Sie ein gemeinsames Interesse, nämlich vorwärtszukommen. Gewiss, es wird Differenzen geben, wie und wann und wohin die Reise gehen soll. Es ist deshalb wichtig zu verstehen, was die Schülerinnen und Schüler umtreibt.
Keine Pseudogespräche mit gekünstelten Fragen
Das Nächstliegende ist das Gespräch mit der Schülerin oder dem Schüler – nicht das Klassengespräch, sondern Dialoge mit Einzelnen, gelegentlich auch mit einer Gruppe. Aber aufgepasst: Die meisten Lehrer-Schüler-Gespräche laufen ja einseitig ab: Die Lehrperson stellt Fragen und gibt Impulse, die Schülerinnen und Schüler antworten einsilbig, wenn überhaupt. Gekünstelte Lehrerfragen sind Gift für einen echten Dialog. Die meisten Erwachsenen würden allergisch reagieren, wenn man sie mit Pseudofragen zum Reden bringen wollte. So erstaunt es nicht, dass sich Schülerinnen und Schüler ungern darauf einlassen.
Das Projekt, das Sie und die Lernenden vereint, heisst «Fortschritte machen» – in allen Bereichen, nicht nur im Fach, das gerade angesagt ist. Deshalb: Entwickeln Sie in sich selbst das echte Interesse an den Lernenden, und bringen Sie es auch zum Ausdruck. Auf dieser Basis können echte Gespräche entstehen. Diese müssen nicht lang dauern und gravitätisch sein; oft reicht eine kurze Verständigung direkt im Unterricht.
Lassen Sie die Schülerinnen und Schüler reden – es ist deren Feedback an Sie
Wichtig ist: Die Schülerinnen und Schüler können sich frei äussern, sie müssen keine Verhaltensregeln für Gespräche beachten. Ausgangspunkt solcher Gespräche ist zumeist ein konkretes Lernproblem, und das ist auch gut so. Wenn Sie einfach zuhören, ohne etwas verkaufen zu wollen, stehen die Chancen gut, dass Sie in ein echtes Gespräch finden. Was Sie erfahren, kann Ihnen und den Lernenden helfen, sich in den Realitäten schulischen Lernens zurechtzufinden, Schwierigkeiten aufzudecken, ein konkretes Problem zu lösen, sinnvolle Ziele zu setzen, das Interesse wiederzuentdecken, das Tempo anzupassen, Neues auszuprobieren usw.
Darüber hinaus geben Ihnen die Schülerinnen und Schüler immer auch Feedback – offen oder eher «zwischen den Zeilen». So erfahren Sie, was Ihnen die Schülerinnen und Schüler direkt oder indirekt mitteilen wollen. Es kann den Lernstoff, die Aufgaben, die Schwierigkeit der Ziele, das Klima oder Ihre Art des Vermittelns oder sogar Ihre Person betreffen. Das angstfreie Gespräch mit den Lernenden gibt Ihnen deshalb wichtige Hinweise, wie Sie den Unterricht und die Lerngelegenheiten entwickeln sollten.
«Schüler-Lehrer-Feedback»
Unter «Schüler-Feedback» oder «Schüler-Lehrer-Feedback» wird in der Regel eine schriftliche Befragung der Schülerinnen und Schüler zum Unterricht und/oder zur Lehrperson verstanden. Es liegen mittlerweile viele erprobte Instrumente zur Unterrichtsevaluation und zum Unterrichtsfeedback durch Schülerinnen und Schüler vor (vgl. Buhren, 2015). Solche Verfahren können die eigenen Beobachtungen zwar ergänzen, sind in der Regel aber zeitaufwendig und geben oft nur durchschnittliche, wenig aussagekräftige Kennwerte an (mehr dazu im Kapitel 7 im Kontext des Überprüfens).
Herausfinden, um welche Ebene es geht
Wer Beobachtungen macht, muss damit auch etwas anfangen können, muss sich einen Reim darauf machen können. Das Interpretieren fällt den meisten Menschen eigentlich leicht. Oft werden Ereignisse sogar vorschnell gedeutet, ohne genügend zu wissen. Deshalb sollte man lernen einzugrenzen, womit man es hier zu tun hat. Das sei an einem Beispiel erläutert.
Ein Beispiel | |
Im Fremdsprachunterricht schaut die Lehrerin einem Schüler zu, wie er an einem Arbeitsblatt arbeitet. Plötzlich schiebt er sein Arbeitsblatt heftig weg und sagt, das verstehe er nicht. Die Lehrerin fragt sich, woran es liegen könnte, dass er entnervt aufgibt. | |
Mögliche Problemursachen | Mögliche Überlegungen der Lehrperson |
1. Möglichkeit: Der Schüler hat ein Problem mit der Sache | Es liegt an der Aufgabe, bei der er nicht weiterkommt. Sie ist vielleicht zu schwer für ihn oder zu unklar formuliert. Oder er hat die entscheidenden Vokabeln vergessen und kann keinen Sinn herstellen. Oder er weiss nicht mehr, wie die entsprechende Zeitform zu bilden ist. |
2. Möglichkeit: Es fehlt eine Strategie | Der Schüler merkt zwar, dass er Schwierigkeiten hat, aber er hat keinen Plan, wie er die Sache anpacken soll. Er weiss nicht recht, wo das Problem liegt. Mögliche Strategien – z. B. den Beispielsatz nochmals lesen, die vergessenen Wörter nachschlagen, den Nachbarn um Hilfe bitten – kommen ihm nicht in den Sinn, oder er kann sich nicht entscheiden, wie er vorgehen soll. |
3. Möglichkeit: Er kann sich nicht organisieren | Er will die Aufgabe möglichst schnell erledigt haben und nimmt sich keine Zeit. Er denkt bereits wieder an andere Dinge und lenkt sich selber ab. Er ist sich nur seines Unmuts bewusst und merkt z. B. nicht, dass der unaufgeräumte Tisch ihm die Konzentration raubt oder dass ihn der Gedanke an die nächste unerledigte Aufgabe ablenkt. |
4. Möglichkeit: Es ist etwas Persönliches, das ihn absorbiert | Er ist gänzlich absorbiert von etwas anderem und hat überhaupt kein Interesse am Unterricht. Vielleicht ist er sich dessen gar nicht bewusst. Möglicherweise etwas Erfreuliches – er freut sich auf ein Date – oder etwas Belastendes – er hat heftigen Streit mit einem Kollegen – oder etwas Familiäres, das niemanden etwas angeht. |
Wie soll sich die Lehrerin nun verhalten? | Es wäre sinnlos, einen Sachverhalt der Grammatik zu erklären, wenn ihn ein persönliches Problem verfolgt; es wäre sinnlos, ihm eine Lernstrategie zu empfehlen, wenn er mit dem Durcheinander auf seinem Tisch nicht mehr zurechtkommt. Wenn die Lehrperson ihm helfen will, muss sie die Ebene treffen. |
Die vier Ebenen nach Hattie und Timperley (2007)
Die oben genannten vier Möglichkeiten entsprechen den vier Ebenen, die Hattie und Timperley (2007) in ihrem wegweisenden Aufsatz «The Power of Feedback» identifizierten:
Ebene | Herausforderung |
Sache | Mit der gegenwärtigen Aufgabe auf der Sachebene zurechtkommen |
Lernprozess und Strategie | Benötigte Strategien, um die Aufgabe zu verstehen und zu bewältigen |
Selbstregulierung | Überwachen, Leiten und Regulieren der eigenen Tätigkeiten |
Person | Eine persönliche Situation, die alles andere überlagert |
Die Unterstützung durch die Lehrperson macht nur dann Sinn, wenn sie weiss, auf welcher Ebene die Herausforderung anzusiedeln ist. Sonst redet man aneinander vorbei und riskiert Verwirrung und Frustration. Das richtige Identifizieren der Ebenen ist geradezu eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche Lernbegleitung. Die Lehrpersonen kann dies nur entscheiden, wenn sie die entsprechenden Informationen hat.
Aktivitäten und Anregungen | |
Beobachten1 und Zuhören im Unterricht: Anregungen für das Training | |
Worauf Sie beim Training achten sollten:Zu verstehen VersuchenBeobachten und Zuhören heisst Informationen erlangen. Beobachten kann geschult werden – nicht das passive Betrachten, sondern das aktive Bemühen, um zu verstehen, was bei einem Schüler, einer Schülerin vorgeht.Trainieren und austauschenWichtig ist, dass Sie in das Training des Beobachtens und Zuhörens Zeit investieren |