Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book). Urban Fraefel
nicht aber während des Unterrichtsgeschehens.
Die Intuition bildet gewissermassen das Bindeglied zwischen Reflex und Analyse. Sie ist zugleich kurzes Nachdenken und schnelles Entscheiden. Die Intuition verbindet die Vorzüge der beiden anderen Ansätze in sich, einerseits des eingeübten Handelns, und andererseits der Einsichten aus einer gründlichen Analyse und Reflexion.
Der entscheidende Punkt ist, dass die stimmige Intuition sich nur mit Hilfe der beiden anderen Ansätze entwickeln kann: Sie braucht sowohl ein Repertoire an Routinehandlungen als auch den analytischen, kritischen und sachkundigen Blick aus der zeitlichen Distanz. Das heisst, dass beides intensiv und wiederholt zu üben ist, sowohl das routinierte Handeln als auch die kritische und gut informierte Analyse.
Fazit: Trainierte und geschärfte Intuition hilft, richtig wahrzunehmen, angemessen zu entscheiden und wirkungsvoll zu reagieren, und dies direkt im Unterricht.
Reflex | Intuition | Analyse | |
Wie schnell wird reagiert? | sofort | schnell | abwägend |
Wie wird die Situation erfasst? | Wiedererkennen eines Musters | schnelle Interpretation der aktuellen Situation | eingehende Überprüfung mit Diskussion und/oder Analyse |
Wie wird entschieden? | reaktiv | intuitiv | abwägend, zum Teil mit Analyse und Diskussion |
Was wird getan? | erlernte Routinehandlungen | erlernte Handlungsmuster, gesteuert mit schnellen Entscheidungen | bewusst geplante Handlung mit wiederholter Prüfung des Fortschritts |
Abbildung 11: Typen der Handlungssteuerung im Vergleich: Reflex – Intuition – Analyse (nach Eraut, 2004, S. 260).
Bessere Einschätzungen durch mehr Wissen, Übung und Erfahrung
Es sind besonders die wenig erfahrenen Lehrpersonen und Studierenden, die mit ihren intuitiven Eindrücken, Einschätzungen und Aktionen oft falsch liegen und es überdies nicht immer merken. Das ist in allen Fachbereichen und Berufen ein bekanntes Phänomen. Aus der umfangreichen Forschung über Expertinnen und Experten (z. B. im Schach) ist hingegen bekannt, dass die Genauigkeit und Richtigkeit von Intuition mit der Erfahrung und dem entsprechenden Wissen zunimmt und dass das schnelle Wahrnehmen und das geschmeidige Verarbeiten kennzeichnend sind für das intuitive Handeln von Expertinnen und Experten (z. B. Ropo, 2004; Gobet & Chassy, 2009). Diesem «Anfängerproblem» ungenauer Intuitionen kann auf mehrfache Weise begegnet werden.
Es braucht Informationen über Lernstand, Lernprozesse, Umstände und Vorgeschichte
Lehrpersonen und Studierende verlassen sich manchmal auf ihre eher oberflächlichen Eindrücke und vergewissern sich unzureichend, wie der Stand wirklich ist – bei einer ganzen Klasse, einer Gruppe oder bei Einzelnen. Ihnen fehlen also Informationen. Es braucht genaues Hinschauen, offenes Zuhören, Einlassen auf Gespräche bzw. Dialoge und auch Fingerspitzengefühl, um mehr über den Lernstand oder das Befinden zu erfahren. Und es braucht Erinnerungen an früher, die der aktuellen Situation zugrunde gelegt sind.
Um Kinder bzw. Jugendliche zu unterstützen, sollte man auch etwas über ihre Entwicklung wissen. Dieses Wissen erschliesst sich nicht im Augenblick, sondern kann nur über einen längeren Zeitraum aufgebaut werden. Aus der Vorgeschichte eröffnet sich mitunter ein Verständnis für die aktuelle Situation.
Vom Beobachten und Zuhören – zwei zentralen Informationsquellen – und dessen Training wird in diesem Kapitel noch die Rede sein.
Wissen
Zum einen braucht es Fachwissen. Wer beim Lösen einer Mathematikaufgabe helfen will, muss die Ursache der Schwierigkeit erkennen, und dazu sollten die Mathematik und die konkrete Aufgabe genau verstanden sein. Zum andern braucht es Grundkenntnisse über das Lernen und die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler. Zum Beispiel wissen wir, wie lange etwa eine Primarschülerin konzentriert zuhören und aufnehmen kann; oder wir wissen um die Turbulenzen in der Pubertät, oder wir wissen um günstige oder hemmende soziale Prozesse in der Klasse. Mit diesem Wissen können Ursachen von Schwierigkeiten eingegrenzt oder ausgeschlossen werden.
Der Wissensvorrat in Form von Texten, Büchern, Onlinequellen usw. kann nicht während des Unterrichts erschlossen werden. Dazu braucht es «Wissen auf Vorrat» oder Recherchen im Nachhinein. Die Lehrpersonenbildung bietet dafür zahlreiche Lerngelegenheiten an, v. a. in Seminaren zur Fachdidaktik, zu den Erziehungswissenschaften und zur Berufspraxis. Das Aufspüren und Verknüpfen erhellender Quellen gehört zweifelsfrei zum Aufbau professioneller Praktiken und in diesem Fall unverzichtbar für die Schulung treffender Diagnosen.
Übung und Erfahrung im Wechselspiel mit neuem Wissen
Es wäre aber eine Fehlannahme zu meinen, dass Lehrpersonen ihre theoretischen Wissensbestände im Unterricht immer gedanklich präsent haben müssten. Das ist schlicht unmöglich, und darum geht es nicht, sondern um das Training und die Schärfung der Intuitionen auf der Grundlage sich kontinuierlich aufbauenden impliziten Wissens. Das Wesentliche an Lernprozessen – auch bei Erwachsenen! – ist ja, dass das Gelernte tief in der eigenen Person verankert ist. Sie kann darüber frei verfügen, ohne Nachgrübeln, ohne angestrengtes Erinnern. Das vorher bearbeitete Wissen wirkt indirekt; der Lernprozess ist initiiert worden, und das Wissen wird nun zunehmend Teil der Praktiken der intuitiven Diagnose.
Dieser Lernprozess der Studierenden und Lehrpersonen erfordert systematische Übung. Wie schon ausgeführt, steigt die Stimmigkeit von Intuitionen vor allem mit der Erfahrung. Es ist deshalb wichtig, dass dieser Prozess bereits in der Lehrpersonenbildung beginnt – durch produktive Lernsituationen in den Praktika, durch Gespräche und (Selbst-)Beobachtungen sowie durch gezieltes Üben, wozu dieses Buch zahlreiche Anleitungen gibt.
Aber wenn nicht gezielt geübt wird, ist Skepsis angebracht. Tina Hascher (2012) stellte in einer grösseren Studie zu Praktika fest, dass «in Praxiskontakten immer irgendwie alles gelernt wird», aber eben nicht spezifische Fähigkeiten entwickelt werden. Sie fährt fort:
«Die Studierenden springen oftmals von einer Situation zur nächsten, und eine systematische Gestaltung ihres Lernprozesses findet nur selten statt. Vielmehr entdecken sie jeden Tag etwas Neues, das sie in der Situation zwar als sehr relevant erachten, aber zu selten in ihren Kompetenzerwerb bzw. in Hinblick auf die Folgen für ihr eigenes Lernen integrieren. Grundlegend muss also die Frage gestellt werden, wie aus Praxiserfahrungen Lernprozesse werden.» (Hascher, 2012, S. 122)
Schulpraktika bieten herausragende Chancen, dass an einzelnen Praktiken systematisch und kontinuierlich gearbeitet wird. So können die Praktiken dermassen entwickelt und verinnerlicht werden, dass sie dauerhaft und auch unter Stress verfügbar sind.
Zurück zur Frage, wie intuitive Diagnosen verbessert werden können. Die Abbildung 12 stellt schematisch dar, aus welchen Ressourcen eine Entscheidung gespeist wird und wo man ansetzen könnte, um die Qualität der Entscheidungen zu verbessern. Wenn eine Lehrperson etwas wahrnimmt und eine intuitive Einschätzung macht, greift sie in der Regel nicht bewusst auf Wissensbestände zurück, sondern muss sich darauf verlassen können, dass sie gelernt hat, richtig einzuschätzen; sie nutzt ihr implizites Wissen. Und wie jeder Lernprozess braucht auch dieser sehr viele Vollzüge, bis er auf professionellem Niveau ist. Aber wie gesagt: Intuitionen erlauben immer noch einen kurzen Moment des Innehaltens, um die aktuelle Situation zu interpretieren – andernfalls würde man rein reflexartig agieren. In diesem kurzen Augenblick des Überprüfens («Stimmt das? Bin ich auf dem richtigen Weg?») wird die Lehrperson möglicherweise eine Information abrufen, mit der sie sich schon früher befasst hat – je nach Situation fachliches oder psychologisches Wissen, Vorwissen über die Geschichte dieses Schülers usw. So ist dieser Lernprozess nie ganz abgeschlossen, denn es wird immer leicht veränderte Situationen und neues Wissen geben, was die Praktiken anreichern und verbessern kann.