Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book). Urban Fraefel
und Anregungen
Was braucht es für eine erfolgreiche Begleitung von individuellen Lernprozessen?
Die Praktiken der individuellen Lernbegleitung sind komplex. Lehrpersonen benötigen dafür ein vielfältiges Repertoire auf verschiedenen Ebenen. Sie erhalten hier die Gelegenheit, die einzelnen Elemente kennenzulernen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie miteinander zu verknüpfen. Besonders beim Thema «Lernbegleitung» ist es wichtig, dass Sie aktiv nach Übungsgelegenheiten Ausschau halten. Mit der Zeit werden Sie lernen, die Elemente flexibel einzusetzen und zu orchestrieren.
Die folgende Abbildung gibt einen ersten Überblick über die Bereiche, die für eine erfolgreiche Lernbegleitung wichtig sind. Die Fülle der Aspekte mag irritieren – aber alle diese Themen werden im weiteren Verlauf des Arbeitsbuchs vertieft werden.
Abbildung 6: Übersicht über die Voraussetzungen und Verfahren zur Entwicklung von Praktiken der Lernbegleitung.
Das fachdidaktische Wissen (in der Abbildung 4 oben links abgebildet) ist für die Lernbegleitung unverzichtbar und zentral, kann aber in diesem Buch nicht vertieft werden, abgesehen von einzelnen beispielhaften Hinweisen. Sinnvoll unterstützen kann nur, wer die Sache selber versteht und weiss, wie sie lehr- und lernbar ist. Es ist deshalb unabdingbar, dass die Studierenden und Lehrpersonen sich ein solides fachliches und fachdidaktisches Wissen aneignen, denn sonst geht in der Lernbegleitung wenig.
Die weiteren Felder der Abbildung 4 – Kommunikation und Beziehung; Fähigkeiten zur Diagnose; Analysieren, Trainieren und Praktiken der Lernbegleitung – werden hingegen in diesem Buch thematisiert, theoretisch eingebettet und vielfältig vertieft.
Weiterführende Informationen und Materialien
Die «soziale Konstruktion» von Wissen: Ein Blick auf den lernpsychologischen Ansatz von Lew Vygotsky
Die Bedeutung dieses Ansatzes für jedes schulische und ausserschulische Lernen kann gar nicht genügend hoch eingeschätzt werden. «Soziale Konstruktion von Wissen» bedeutet, dass Menschen andere Menschen brauchen, um sich etwas lernend zu erschliessen und das Wissen am Ende verinnerlichen zu können. Kaum jemand lernt sprechen oder lesen oder stricken oder ein Musikinstrument spielen ohne andere Menschen. Das hatte der russische Forscher Lew Vygotsky (1896−1934) als erster intensiv erforscht und beschrieben, was ihm, neben Jean Piaget, einen bleibenden Platz unter den Pionieren der Lernpsychologie eingetragen hat. Er stellte fest, dass in der kulturellen Entwicklung eines Kindes alles zuerst auf sozialer Ebene geschieht, bevor es im Innern des Kindes Gestalt annimmt. Alle höheren geistigen Funktionen beruhen gemäss Vygotsky auf realen Beziehungen zwischen Menschen (Vygotsky & Cole, 1934/1978, S. 57).
Abbildung 7: Taschenlampe in der Nacht als Metapher für die «Zone der nächsten Entwicklung» (Lernzone)
Vygotskys Ansatz ist bedeutsam für jedes Lernen überhaupt. Mit der sogenannten «Zone der proximalen Entwicklung» schuf Vygotsky eine einleuchtende Metapher für Lernprozesse im sozialen Kontext. Sie wird auch «Zone der nächsten Entwicklung» oder schlicht «Lernzone» genannt. Vygotsky versteht darunter die Distanz zwischen dem, was ein Kind alleine erreichen kann, und dem, was es unter Anleitung von Erwachsenen oder mit fähigeren Peers meistern kann (nach Vygotsky & Cole, 1934/1978).1 Dies wird in der Abbildung 6 verdeutlicht: Zwischen dem Gelernten und dem Unerreichbaren erstreckt sich die Zone, in der die Menschen etwas lernen können und mehr oder weniger Unterstützung brauchen. Man könnte die Zone mit einem Taschenlampenstrahl in der Nacht vergleichen: Die «Zone der nächsten Entwicklung» reicht so weit, wie die Taschenlampe leuchtet (Abbildung 7).
Abbildung 8: Veranschaulichung der Zone der proximalen Entwicklung. Vgl. auch Tharp und Gallimore, 1991; Hattie & Clarke, 2018.
1«…the distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance, or in collaboration with more capable peers» (Vygotsky & Cole, 1934/1978, S. 86).
Die Bedeutung der «Zone der nächsten Entwicklung» für Lernen im Unterricht
Es lässt sich festhalten: Wenn es um einen bestimmten Lerngegenstand geht, haben alle Schülerinnen und Schüler ihre eigene «Zone der nächsten Entwicklung», in der Fortschritte möglich sind: Wenn die Herausforderung zu gering ist («Komfortzone») oder zu gross («Panikzone»), lernen sie nichts. In einem Klassenunterricht sieht sich die Lehrperson immer Schülerinnen und Schülern gegenüber, die an höchst unterschiedlichen Orten stehen, wenn es um eine bestimmte Sache geht: Einige können nicht folgen, weil es zu schwierig ist, einige sind unterfordert und machen keine Fortschritte, und einige haben das Glück, dass die Anforderungen des Unterrichts genau in ihrer «Zone der nächsten Entwicklung» liegen. Nur diese profitieren.
Ein wichtiger Faktor ist die Zeit: Klassenunterricht ist in der Regel klar getaktet und lässt jenen, die etwas verpasst haben, nur beschränkt Zeit. Manche Schülerinnen und Schüler wären durchaus erfolgreich, wenn sie etwas mehr Zeit hätten oder etwas Verpasstes kurz nachholen oder üben könnten. So aber riskieren sie, den Anschluss zu verpassen.
Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit: Es gibt in einer Unterrichtsstunde nicht nur «einen» Lerngegenstand; vielmehr überlagern sich zahlreiche unterschiedliche Themen. Je nach Fähigkeiten und Vorwissen sind nicht alle Schülerinnen und Schüler gleich angesprochen. Eine Schülerin kann bei einem Thema gut mitkommen und kurz danach scheitern, und beim nächsten Schüler ist es umgekehrt. Mit anderen Worten: Es sind immer wieder andere Schülerinnen und Schüler, für die sich der Klassenunterricht in der Zone der proximalen Entwicklung abspielt. Die Abbildung 7 veranschaulicht diesen Sachverhalt graphisch. Dabei wird klar, dass eine Lehrperson nie alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe gleichzeitig erreichen kann, so flexibel und gewandt der Unterricht