Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book). Urban Fraefel

Praktiken professioneller Lehrpersonen (E-Book) - Urban Fraefel


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      Man könnte nun den Schluss ziehen, der Klassenunterricht sei überholt. Das ist aber keineswegs der Fall: Gerade weil der Unterricht einer ganzen Lerngruppe so anspruchsvoll ist, soll er hoch professionell gestaltet werden, und die Lehrpersonen werden auch dafür wirkungsvolle Praktiken aufbauen, trainieren und weiterentwickeln. Das wird Gegenstand weiterer Kapitel sein.

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      Abbildung 9: Veranschaulichung der unterschiedlichen «Zonen der nächsten Entwicklung» der Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe.

Aktivitäten und Anregungen
Fünf Anregungen, wie Sie sich dem Thema «Lernbegleitung» in Ihrer täglichen Praxis annähern können.
1. Machen Sie Erfahrungen mit individueller Lernbegleitung.Sie sollten das, was hier erläutert und diskutiert wird, mit konkreten Erfahrungen verbinden können, die nicht zu weit zurückliegen.Suchen Sie wiederholt Gelegenheiten der individuellen Lernbegleitung. Ein paar Hinweise:–Wenn Sie allein unterrichten, sollten Sie die Phasen der Einzel- oder Partnerarbeit nutzen, um einzelne Schülerinnen und Schüler im Bedarfsfall zu unterstützen.–Wenn Sie in einem Praktikum sind, dann konzentrieren Sie sich in Phasen des Co-Teachings ganz auf die Lernbegleitung und überlassen Sie anderen Lehrpersonen den Klassenunterricht.–Unterstützen Sie Schülerinnen und Schüler ausserhalb des Unterrichts, z. B. durch Nachhilfe.–Helfen Sie Schülerinnen und Schülern aus ihrem Bekanntenkreis bei den Hausaufgaben.2. Dokumentieren Sie Ihre Lernbegleitung.Lehr-Lern-Gespräche sind flüchtig. Darum sammeln Sie «Spuren» Ihrer Lernunterstützung, z. B.–Behalten, kopieren oder fotografieren Sie, was während der Gespräche aufgeschrieben wird.–Machen Sie eine Audio-Aufnahme mit Ihrem Smartphone, wenn die Schülerin, der Schüler damit einverstanden ist.–Lassen Sie sich von einer Drittperson filmen, wenn alle Beteiligten einverstanden sind – ein Smartphone reicht dafür aus.3. Werden Sie sich Ihrer Praktiken bewusst, d. h., wie Ihre Lernbegleitung gegenwärtig «funktioniert».Auf den folgenden Seiten lernen Sie viele neue Aspekte der Lernbegleitung kennen. Sie werden jeweils aufgefordert, Ihre Erfahrungen mit Lernbegleitung unter diesem Blickwinkel zu betrachten und zu analysieren.Bei der nächsten Gelegenheit können Sie den ausgewählten Aspekt dann besonders beachten.4. Beobachten Sie sich selbst.Schon jetzt fällt Ihnen bestimmt auf, wie Sie Lernbegleitung intuitiv gestalten.–Wissen Sie genau, wo die Schwierigkeit liegt?–Stellen Sie Fragen, um herauszufinden, was die Schülerin, der Schüler schon kann oder nicht kann?–Erklären Sie? Oder stellen Sie vor allem Fragen?–Stellen Sie mehrere Fragen hintereinander?–Wollen Sie mit Ihren Fragen die Schülerin, den Schüler anregen, das Problem selbst zu lösen?–Erklären Sie mit Beispielen?–Erklären Sie, indem Sie etwas vorzeigen?
5. Empfehlung, im «Handbuch» Bemerkenswertes, Gelerntes, Ungenügendes zu notieren.Die Erfahrungen und Einsichten sind flüchtig, wenn Sie sie nicht festhalten. Nutzen Sie Ihr «Handbuch», wie auch immer Sie es gestalten.Lesen Sie doch nochmals die Arbeitsanleitung im Kapitel 3!

      Diagnostizieren ist unverzichtbar

      Unterricht und Lernbegleitung sind ein Blindflug, wenn man nicht weiss, wo die Schülerinnen und Schüler stehen: Lehrpersonen stellen womöglich zu schwierige oder zu leichte Aufgaben, oder sie breiten Dinge aus, die die Schülerinnen und Schüler längst verstanden haben. Diagnostische Fähigkeiten sind deshalb für Lehrpersonen absolut zentral.

      «Schulische Diagnostik» – bisweilen auch mit dem sperrigen Ausdruck «pädagogische Diagnostik» bezeichnet – bedarf der Erklärung: Wenn eine Lehrperson diagnostiziert, gelangt sie zu relevanten Informationen über den aktuellen Lernstand, die Lernprozesse und die besonderen Bedingungen einzelner Schülerinnen und Schüler, um sie gezielt und wirkungsvoll unterstützen zu können. Die Lehrperson versucht, herauszufinden oder sich zu vergegenwärtigen, wo ein Kind zurzeit steht, wie es beim Lernen unterwegs ist, wo Schwierigkeiten bestehen und was die Fortschritte bremst oder aber begünstigen kann. Das ist die Bedingung, damit die Lehrperson die Lernprozesse positiv und lösungsorientiert beeinflussen kann.

      «Schulische Diagnostik erfolgt aus dem Unterricht heraus und erfolgt im Unterricht, mit den Mitteln des Unterrichts. Sie sucht dabei nicht ausschliesslich nach Ursachen für Hindernisse, sondern vor allem nach Lösungen, um Lernerfolge zu ermöglichen» (Jansen & Meyer 2016), S. 28.

      Auch Fachpersonen und Forschende der Lehrpersonenbildung im englischen Sprachraum betonen, dass diese Fähigkeit, Dinge zu bemerken und einzuordnen, sehr wichtig ist. Vielfach wird von «Noticing» – Wahrnehmen, Bemerken – oder schlicht «Seeing» gesprochen (z. B. Nilssen, 2009: «The habit of seeing»; Rosaen et al., 2008).

      «Schulische Diagnostik» bedeutet also zuerst einmal, dass die Lehrperson etwas über den Stand der Schülerinnen und Schüler erfährt. Ziel ist das treffende Erkennen von Lernstand, Schwierigkeiten und Potenzialen von einzelnen Schülerinnen und Schülern, dies vor allem im Unterricht. Hilfreich ist sodann das Verstehen, wie es ihnen mit dem Lernen ergeht. Man sollte nicht nur herausfinden, was die Lernenden können und verstanden haben, sondern auch, warum das so ist. Erst dann kann die Lehrperson sinnvoll unterstützen, falls dies nötig ist. Dazu braucht es aber eine relativ schnelle Einschätzung der Situation und entsprechend einfache Verfahren. Wenn das Ziel eine wirkungsvolle Lernbegleitung im Unterricht ist, muss die Diagnose der Chancen oder allenfalls der Ursachen des Problems unmittelbar erfolgen.

      Schulische Diagnosen als Teil der formativen Beurteilung

      Der Begriff «formative Beurteilung» hat sich im deutschen Sprachraum eingebürgert, und mit dem Wort «Beurteilung» kann der unrichtige Eindruck entstehen, es gehe um eine Bewertung. Hattie und Clarke (2018) schlagen deshalb vor, eher die Bezeichnung «formative Evaluation» zu verwenden. In diesem Buch werden die Begriffe «Beurteilung» und «Evaluation» weitgehend synonym verwendet, während von «Bewertung» nur im Zusammenhang mit der Notengebung gesprochen wird.

      Alle Informationen, die über das Lernen der Schülerinnen und Schüler vorliegen – Beobachtungen, Tests, schriftliche Arbeiten usw. – können formativ und summativ verwendet werden, und beides hat nicht zwingend mit Bewertung zu tun. Irrtümlicherweise wird summative Evaluation oft mit Noten und Selektion in Verbindung gebracht. Das ist nicht richtig: Eine summative Evaluation liefert schlicht Informationen, was die Schülerinnen und Schüler zu einer Thematik können, was sie gelernt haben und was nicht, um auf dieser Basis die nächsten Schritte zu planen. Wie die Lehrpersonen daraus selektive Noten ableitet (d. h. wie sie bewertet), ist eine ganz andere Angelegenheit und darf mit der formativen und summativen Evaluation nicht verknüpft werden.

      Gemäss der Literaturübersicht von Black und Wiliam (1998) machen fünf Elemente die formative Evaluation aus, wovon das Feedback eine besonders wichtige Stellung einnimmt:

ZieleStand jetztNächste Schritte
Lehrperson1 Die Lernziele und die Erfolgskriterien klären2 Mit Gesprächen und Lernaufgaben offenlegen, was die Lernenden schon verstanden haben3 Feedback geben, das den Lernenden hilft, weiterzukommen
PeersDie Lernziele und die Erfolgskriterien verstehen und einander mitteilen4 Die Mitschülerinnen und -schüler als gegenseitige Lernunterstützung aktivieren
Individuelle LernendeDie Lernziele und die Erfolgskriterien verstehen5 Die Lernenden aktivieren, damit sie ihr eigenes Lernen selbst in die Hand nehmen

      Abbildung 10: Aspekte formativer Evaluation (nach Black und William, 1998, S. 8; Übersetzung U. F.)

      Black und Wiliam (1998) fassen zusammen, worin formative Evaluation


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