Kinder sicher im Internet. Geyrhofer Alexander
zu krabbeln, sich hochzuziehen. Bald schon tut es auch die ersten Schritte. Anfangs nehmen sie es noch bei der Hand, um Stürze und Verletzungen zu vermeiden.
Dann bekommt es sein erstes Laufrad. Mitsamt Schutzausrüstung. Ein Sturzhelm. Dazu Ellbogenschützer. Auch das erste Fahrrad ist gesichert. Mit Stützrädern. Später werden sie abmontiert.
Bei mir und meinen Kindern war es nicht anders. Auch ich bin besorgt hinter ihnen hergelaufen, als sie allein die ersten, wackeligen Meter zurückgelegt haben. Ich habe sie vorerst am Gepäckträger gehalten. Das Gleichgewicht fürs Radfahren zu halten, will eben erlernt sein.
Beim Skifahren, Snowboarden und anderen Sportarten schlagen wir oft andere Wege ein. Da schicken wir unseren Kleinen zu Profis, die sie den Umgang mit den Sportgeräten lehren. Dazu auch gleich alle Sicherheitsvorkehrungen, die man eben so braucht. Im Straßenverkehr, wo bekanntlich besonders viele Gefahren lauern, ist es genauso. Zu Beginn zeigen noch wir ihnen, worauf es ankommt. Etwa beim Queren einer Straße auf dem Schutzweg. Oder auch, wo sonst Gefahren auf dem Schulweg lauern. Hier kommen auch schon die Verkehrserzieher der Polizei ins Spiel. Sie machen Schulbesuche. Später folgen Fahrradprüfung, Mopedführerschein. Dann der Führerschein. Der L17 womöglich, wo wir selbst mit der Jugend viele Kilometer abspulen. Dreitausend mindestens. Graue Haare, die uns dabei auf dem Beifahrersitz spontan wachsen, sind keine Seltenheit. Das alles, weil wir letzten Endes unsere Kinder beschützen, sie auf die Gefahren auf dem Highway vorbereiten wollen.
Nun die Frage der Fragen:
Warum lassen wir unsere Kinder dann auf diesem anderen Highway, dem Datenhighway, allein? Wo ist da auf einmal unsere Verantwortung abgeblieben?
Vermutlich zählen Sie als Leserinnen und Leser dieses Buches zu den sogenannten Digital Immigrants. So wie ich. Zu jenen Menschen also, die nicht mit der digitalen Welt aufgewachsen sind. Die erst hineinwachsen mussten. Oftmals nicht ohne große Mühen.
Können wir uns als digitale Zuwanderer so einfach der Verantwortung entziehen? Sind wir, weil es nicht von vornherein unsere Welt gewesen ist, davon befreit, andere Bewohner zu beschützen? Gelten Ausreden wie »Ich kenne mich da nicht aus.«? Dürfen wir eigene Verpflichtungen ohne weiteres auf andere abwälzen? Auf den Schulbetrieb zum Beispiel?
Beantworten wir auch nur eine dieser Fragen mit Ja, so zählen wir zu ihnen: den digitalen Verweigerern. Den digitalen Außenseitern.
Kritische Situationen gibt es für Kinder auch in ihrer Internet-Existenz immer und überall. Sie damit allein zu lassen, ist grundfalsch. Wie sonst auch, benötigen Heranwachsende immer wieder Ansprechpartner. Jemand, dem sie uneingeschränkt vertrauen können. Wie solch kritische Situationen im World Wide Web aussehen können, möchte ich Ihnen in den folgenden Kapiteln in allen Einzelheiten offenlegen.
Immer wieder bin ich auf Eltern oder Lehrkräfte getroffen, die es mir offen ins Gesicht gesagt haben: »Facebook? WhatsApp? Keine Ahnung. Da kenne ich mich nicht aus. Interessiert mich auch nicht. Ich will mich erst gar nicht damit befassen.« Allesamt Menschen, die täglich mit Kindern zu tun haben.
Solche Signale erreichen dann nicht nur mich in einem einmaligen Gespräch. Sie werden im Gegenteil an die Kinder dieser Menschen, an ihre Schutzbefohlenen ausgesendet. Tag für Tag. So werden aus anfangs vielleicht noch kleinen Problemen rasch größere. Weil niemand da ist, der sich ihrer annimmt.
Würde ich mit meinem Auto in die Tischlerei fahren, wenn die Motorkontrollleuchte blinkt? Sicher nicht. Kinder tun das ebenso wenig. Sie haben feine Antennen dafür, wer im Problemfall für ihre Anliegen da ist. Und vor allem, wer nicht. Wenn wir das doch sein wollen, bleibt nur dieser eine Weg:
Auf in Richtung Medienkompetenz!
Kinder müssen immer dafür gerüstet sein: für den Worst Case. Sie müssen genau wissen, an wen sie sich im Notfall wenden können. Seien es die Eltern. Seien es die Lehrer. Ein Onkel. Eine Tante. Pate oder Patin, Freunde der Familie. Wer sich in der Medienlandschaft auskennt und zugleich das Gefühl vermittelt, ein immer offener, vertrauenswürdiger Gesprächspartner zu sein.
Natürlich gibt es auch zu diesem Thema Studien. Eine davon, für den gesamten EU-Bereich erstellt, ergab beispielsweise in punkto Mobbing: Kinder und Jugendliche erwarten sich da am ehesten Hilfe unter ihresgleichen, in der Peergroup. Bleibt diese Unterstützung aus, werden Erwachsene zu Rate gezogen. Wenn es denn welche gibt, die in Frage kommen. Denn die (oft nicht unberechtigte) Angst davor, Eltern etwa könnten überreagieren, verhindert diesen Schritt. Etwa, weil verlangt würde, den Facebook-Account zu löschen, weil der Internetzugang gesperrt oder das Smartphone überhaupt einkassiert würde.
Was ist der nächste Schritt?
Oft genug dieser: das Outing in einem x-beliebigen Internetforum. Auch dort haben sich längst jene dunklen Charaktere eingenistet, mit denen unsere Kinder besser nicht in Kontakt kämen. Erinnern wir uns nur an das besonders tragische Beispiel von Amanda Todd, das Mädchen aus dem kanadischen Vancouver. Amanda wurde nur 15 Jahre alt. Zu Tode gemobbt. In einem achtminütigen, bewegenden und um die Welt gehenden Video erzählte sie auf Karteikarten ihr Schicksal, nahm Abschied. Danach beging sie Selbstmord.
Ihre Geschichte entstammt nur auf den ersten Blick einer fernen Welt. In Wirklichkeit ist es eine Allerweltsgeschichte. Ebenso gut hätte sie in Österreich oder Deutschland spielen können. Und sie hat auf besonders tragische Weise klargemacht:
Kinder müssen aktiv auf das Internet vorbereitet werden. Auf seine Vorteile.
Und auf seine Gefahren.
Kinder müssen wissen, was es mit der Anonymität im Netz auf sich hat. Kinder müssen wissen, dass es Phänomene wie dieses gibt: Genderswapping. Dass dies nichts anderes bedeutet, als dass Männer sich als Frauen und Frauen sich als Männer ausgeben.
Doch damit nicht genug: Kinder müssen auch wissen, dass sie niemals schuld sind, wenn sie Opfer einer Straftat im Internet werden. Kinder müssen wissen, dass ihnen keine Gefahr droht, wenn sie sich jemandem anvertrauen. Dass sie deshalb nicht ihren Zugang zu Social Media verlieren. Weil Social Media und Co. ein wichtiger Teil ihrer Entwicklung sind. Weil Social Media und Co. zu ihnen gehören wie vieles andere auch. Weil Social Media und Co. ebenfalls zur sozialen Entwicklung eines modernen Menschen zählen. Weil das außer Streit stehen muss. Strittig sein sollte allein, wie wir damit umgehen.
SMARTPHONES – SEGEN ODER FLUCH?
Können, sollen, dürfen, müssen wir unsere Kinder, weil wir sie doch beschützen wollen, vom Gebrauch von Handys ausschließen? Oder sollen wir sie walten und schalten lassen, wie sie wollen? Ist das eine zeitgemäß und das andere sinnvoll?
Geht es uns da nicht allen gleich, mal mehr, mal weniger?
An manchen Tagen verfluchen wir das Ding, wünschen es irgendwo hin, nur nicht in unsere Nähe. Weil es uns belastet, weil es an uns hängt, wie ein Klotz am Bein. Wie festgekettet. Weil es uns zu Sklaven macht. Und zugleich möchten wir es nicht missen, können uns ein Leben ohne nicht so recht vorstellen.
Nicht so recht? Nein, gar nicht.
Ein überaus zwiespältiges Verhältnis, das wir zu unserem ständigen Begleiter aufgebaut haben. Doch es ist allgegenwärtig. Die Zahlen belegen das auch. In beinahe jedem Haushalt im gesamten deutschsprachigen Raum gibt es mindestens eines davon. Oftmals jedoch mehrere.
Das Mobiltelefon.
Wir sollten es ausschließlich zum Telefonieren benutzen. Das sagen in der Regel bloß jene, von denen wir schon als digitale Außenseiter gehört haben.
Telefonieren als beliebteste Handy-Funktion ist im Ranking mittlerweile weit abgeschlagen, rangiert erst an sechster Stelle. Davor WhatsApp, Musik hören, fotografieren, Youtube und andere Streamingdienste, Internetsurfen.
Dann erst der Zweck, für den es irgendwann einmal entwickelt wurde: telefonieren.
Wir wissen es natürlich, vergessen es aber im Alltag allzu gerne: Unsere Kinder leben nach, was wir vorleben. Nonverbale Kommunikation. Sei es in Text, Bild, Video oder Ton. Sich unterhalten im Sinne von unterhalten