Zwischen Beraten und Dozieren. Geri Thomann

Zwischen Beraten und Dozieren - Geri Thomann


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quasi Qualitätsträger.

      Dozierende sind dadurch auch zur Forderung, nicht nur zur Förderung der Lernenden aufgerufen. Auch wenn durch die lebendige Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden eine «Quasi-Kollegialität» entsteht.

      Spannungsfeld 3: «Beraten versus Beurteilen»

      «Studierende in ihren Lernprozessen und bei ihren Arbeiten zu begleiten und sie schliesslich zu beurteilen, ist für mich eine grosse Herausforderung – manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mich dabei eigentlich selbst beurteile.»

      Hochschuldozent aus einem Lernbericht

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      Abb. 5 «Rollenstrauss» von Dozierenden – Spannungsfeld 3

      Lehrende begleiten und beraten Lernende in ihrem Lernen, und sie beurteilen den Lernerfolg. In Praxisprojekten oder schriftlichen Arbeiten werden Studierende beraten und schliesslich beurteilt. Die Institution unterstützt und berät die Studierenden und erteilt ihnen zum Schluss ein Diplom – oder nicht.

      Dies widerspiegelt einen der grössten alltäglichen Rollenkonflikte von Lehrenden: Der pädagogisch orientierten Begleitung folgt in der Regel die summative Beurteilung von Leistungen, einer scheinbar symmetrischen Beziehung kann der asymmetrische Bruch folgen. Die Nähe der begleitenden formativen Beurteilung wird durch die Distanz der summativen Beurteilung infrage gestellt, Enttäuschungen können auf beiden Seiten entstehen. Gelegentlich wird innerhalb der Institution die Beurteilungsfunktion personell von der Begleitungsfunktion getrennt. Nicht selten verlagert sich dann die vormals intrapersonelle Spannung in eine institutionelle (Beurteilende werden von Studierenden mit höherem Status versehen etc.).

      Im Zuge der Modularisierung von Studiengängen und der damit zunehmenden Anzahl von Kompetenzüberprüfungen erhalten solche Spannungen eine ganz neue Dimension.

      Schliesslich ist zu beachten, dass sich Lernbegleitungs- und Beratungsformen im institutionellen (Bildungs-)Kontext erheblich von frei gewählter Beratung unterscheiden. Das verunmöglicht sie nicht, heisst jedoch, dass die Beratenden ihre Rolle in der Institution und gegenüber den Lernenden klären und die Grenzen und Möglichkeiten solcher Rollenkombinationen erkennen müssen.

      Dies bedingt eine Klärung der Rahmenbedingungen (Kontraktierung) und eine immer wiederkehrende Rollentransparenz («ich argumentiere jetzt aus der Sicht der Beurteilungsperson»).

      Was irritiert immer wieder an der Rollenkombination «Beraten – Beurteilen»?

      imageDie Sorge, dass die Beratungsbeziehung durch die Beurteilungsfunktion gefährdet werde.

      imageDie Befürchtung, dass die erwartete Beurteilung das Vertrauen der Lernenden in den Lehrenden verunmögliche.

      imageDer Wunsch, in einen gleichberechtigten Dialog einzutreten, in der Beurteilungsfunktion jedoch unverhofft zum «mächtigen Experten» zu werden.

      imageDie Kriterien der Beurteilung und ihre Folgen nach einem gelungenen Beratungsprozess nicht zu berücksichtigen oder zu akzeptieren.

      imageEs nicht zu wagen, aufgrund der «mitschwingenden» Beurteilungsfunktion eine partiell symmetrische Beratungsbeziehung einzugehen.

      imageSich nach einem Beratungsprozess nicht mehr für objektiv und unvoreingenommen in der Beurteilung zu halten.

      Offensichtlich schafft Beraten Nähe und Beurteilen Distanz.

      Und doch existiert Gemeinsames: Jede Wahrnehmung enthält Urteilsprozesse. Was wir sehen, filtern und interpretieren wir bzw. setzen wir in einen Sinnzusammenhang. «Diagnose» machen wir Dozierende bei Beurteilungen, aber auch in Beratungen.

      Von Beraterinnen und Beratern wird zu Recht erwartet, dass sie eine hohe Orientierungskompetenz und Problemlösefähigkeit besitzen sowie über diagnostische Fähigkeiten verfügen. Sie müssen zudem in der Lage sein, den Beratungsprozess zu steuern und den Entwicklungsprozess der Beratenen anzuregen. Dazu ist ein hohes Mass an Urteilsfähigkeit gefordert.

      Handlungsmöglichkeiten im Dilemma «Beraten – Beurteilen»

      In vielen Organisationen wird – wie weiter oben erwähnt – darauf geachtet, dass diese Funktionen personell getrennt werden. Wo dies nicht möglich ist, kann darauf geachtet werden, dass Beurteilungssituationen klar als solche definiert sind und sich vom übrigen Lerngeschehen möglichst unterscheiden.

      Weitere Möglichkeiten:

      imageRollentransparenz, Kommunikation des eigenen Umgangs mit widersprüchlichen Rollen seitens der oder des Dozierenden (im Rahmen von transparenten Vorgehensweisen und Vereinbarungen),

      imagedie Förderung des beidseitigen Interesses, die Ausbildungssituation als Lerngelegenheit mit vielen Rückmeldungen zu nutzen,

      imageBeratungssituationen nicht als «Wolf im Schafspelz» missbrauchen,

      imageBeratungen oder Beratungsphasen als solche kontraktieren und darin gemeinsam an Diagnose, Problemdefinierung und Problemlösung arbeiten,

      imageklar mitgeteilte und diskutierte (evtl. ausgehandelte) Lernziele und Erfolgskriterien,

      imageeinsichtige und transparente Beurteilungen,

      imageSelbst- und Fremdbeurteilungen im Verlauf des Studiums,

      imageSorgfalt und Wertschätzung beim Beurteilen von Leistungen,

      imageals unsinnig erkannte Beurteilungsverfahren und -kriterien ändern.

      Im folgenden Abschnitt finden Sie verschiedene Begriffspaare im Umkreis der Thematik «Beraten – Beurteilen».

      Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind – davon gehe ich aus – in einer Berufsrolle tätig, in der Sie sich für Ihren eigenen Weg im handelnden Umgang mit den Dilemmata zwischen Beurteilen und Beraten entscheiden müssen.

      Reflexionsfragen Dilemmata zwischen «Beraten und Beurteilen»

      Wählen Sie aus der folgenden Tabelle drei Begriffspaare aus, die Sie im Alltag in der Lehre als Widerspruch erfahren.

      imageWie gehen Sie damit um?

      imageGibt es diesbezüglich «einfachere» und «schwierigere» Situationen? Welche?

      imageWelches sind für Sie gelungene Wege, mit dem Dilemma umzugehen?

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