Lehrberuf: Vorbereitung, Berufseinstieg, Perspektiven (E-Book). Mirjam Kocher
stärker kognitiv. Die Lehrperson wird dadurch weniger als pädagogische Sozialisationsinstanz und Rollenvorbild denn als Verkörperung einer Fachdisziplin (a. a. O.) valorisiert, zu der eine eher neutral-distanzierte Beziehung gepflegt wird.
5Zusammenfassung und Diskussion
Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse, dass sich die FMS Pädagogik und die Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP am Gymnasium trotz ihrer Ähnlichkeit als allgemeinbildende und musisch-pädagogisch orientierte Bildungsprofile der Sekundarstufe II in den valorisierten Bildungszielen, Wissensformen und Modi der Wissensvermittlung wesentlich unterscheiden.
Das Profil der FMS Pädagogik zeichnet sich durch eine der industriellen Konvention entsprechende funktionale Logik der Vorbereitung auf den Lehrberuf und das gezielte Herstellen von Studierfähigkeit für die PH aus, die dadurch (a) über die gesamte Mittelschulzeit als selbstverständliche Abnehmerin positioniert und valorisiert wird. Die für die Studierfähigkeit geforderten fachlichen und wissenschaftlich-methodischen Kompetenzen (Eberle, 2016) integriert die FMS insbesondere in Form der Fachmaturität Pädagogik in ihr Profil. Mit Blick auf den zukünftigen Beruf konstituiert sich die Vorbereitungslogik inhaltlich aber vor allem durch Aspekte der häuslichen Konvention wie Gemeinschaftlichkeit, Charakterbildung, pädagogisch-soziale Werte und praktisch-handwerkliches, musisch-kreatives Tun. Damit weist die FMS Pädagogik Ähnlichkeit zu den ehemaligen Lehrerinnen- und Lehrerseminaren auf, als deren Ersatz sie vielerorts bezeichnet wird.
Mit der expliziten Ausrichtung auf die Ausbildung zur und Tätigkeit als Lehrperson bietet dieses Profil (b) früh entschlossenen, pädagogisch interessierten Jugendlichen einen direkten Weg zur Verwirklichung ihres konkreten Berufswunschs und fördert eine frühe Identifikation mit dem Lehrberuf, was die Wahrscheinlichkeit einer anschließenden PH-Ausbildung erhöht. Weiter entscheiden sich die Schülerinnen und Schüler an der FMS (c) nicht für ein bestimmtes Schwerpunktfach, sondern für ein «Berufsfeld» als Ensemble von mehreren musisch-pädagogischen Berufsfeldfächern – was im Gegensatz zu einer monofachlichen Orientierung stärker der PH-Ausbildung und Berufstätigkeit der Primarlehrperson als Generalistin oder Generalist[16] entspricht. Dieser zukünftigen Berufstätigkeit auf Primarstufe entspricht (d) auch die praktisch-konkrete, beispielhaft und alltagsnah gestaltete, pädagogisch eng begleitete Wissensvermittlung der häuslichen Konvention. Die hohe Bedeutung der FMS Pädagogik als PH-Zubringerin kann aus dieser Perspektive also unter anderem darauf zurückgeführt werden, dass ihr «konventionelles Profil» deutliche Nähe sowohl zur PH-Ausbildung als auch zur späteren Berufstätigkeit aufweist.
Die Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP am Gymnasium unterscheiden sich in ihrem konventionellen Profil wesentlich von der FMS Pädagogik. Statt funktionaler Vorbereitung wird eine staatsbürgerliche Logik der Entkopplung von Schwerpunktfach und Studienfach- oder Berufswahl valorisiert. Ebenso erhalten zweckfreie, extensive, abstrakt-analytische Allgemeinbildung und die dafür erforderliche Leistungs- und Abstraktionsfähigkeit sowie Anstrengungsbereitschaft Wertigkeit.[17] Andererseits werden auch Aspekte der inspirierten Konvention wie Kreativität, Neugier und Leidenschaft valorisiert, insbesondere bei der Wahl des Schwerpunktfachs. Diese Aspekte lassen eine Berufsausbildung zur Primarlehrperson in verschiedener Hinsicht als weniger anschlussfähig erscheinen. Die Wahl eines Schwerpunktfachs erfordert und fördert (a) Interesse und Leidenschaft für eine ganz spezifische Fachdisziplin, was der Ausbildung zur Primarlehrperson als Generalistin oder Generalist entgegensteht. Selbst am Lehrberuf interessierte Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ziehen aufgrund ihrer monofachlichen Orientierung eher die Studiengänge der Sekundarstufe I oder II in Betracht. Die empirisch nachgewiesene Differenzierung von Studienwahlmotiven zwischen fachlichem und pädagogischem Interesse nach angestrebter Zielstufe (Keck Frei et al., 2012) scheint sich hier zwischen FMS und Gymnasium zu reproduzieren. Im Weiteren rückt (b) mit der Entkopplung von Schwerpunkt- und Studienfach und dem Fokus auf zweckfreie Allgemeinbildung die konkrete Berufswahl in den Hintergrund – womit die PH als Professionshochschule mit Vorbereitung auf einen klar umrissenen Beruf weniger anschlussfähig erscheint als universitäre Studiengänge mit offeneren Berufsoptionen. Außerdem entspricht (c) die am Gymnasium valorisierte, abstrakte Wissensform und ihre überwiegend theoretische, kognitiv anspruchsvolle Vermittlung stärker der Lehrpraxis an einer Universität. Diese wird (d) während der gesamten gymnasialen Ausbildungszeit als selbstverständliche Abnehmerin valorisiert, wodurch ein PH-Studium gegebenenfalls aus dem Blickfeld gerät.
Zusammenfassend kann die Hypothese formuliert werden, dass die hohe Bedeutung der FMS Pädagogik unter anderem darauf zurückgeführt werden kann, dass sie mit ihrem stark auf Wertigkeiten der häuslichen und industriellen Konvention beruhenden Profil in hohem Maße demjenigen der PH als Ausbildungsinstitution für den konkreten, pädagogisch-soziale Interessen erfordernden Generalistinnen- und Generalistenberuf der Primarlehrperson entspricht. Die gymnasiale Ausbildung valorisiert mit zweckfreier Bildung und der Leidenschaft für ein ganz spezifisches Fach Wertigkeiten der staatsbürgerlichen und der inspirierten Konvention, welche die Ausbildung zur Primarlehrperson als fachübergreifende und praxisbezogene Berufsausbildung weniger anschlussfähig erscheinen lassen. Die konventionensoziologische Perspektive erlaubt, diese Unterschiede konzeptionell zu fassen, zu systematisieren und die stabilisierende Bedeutung kognitiver Formate und materieller Objekte in den Blick zu nehmen. So kann die unterschiedliche Bedeutung beider Profile für die Ausbildung zur Primarlehrperson mit ihrer unterschiedlichen «konventionellen Anschlussfähigkeit» erklärt werden. Weiter zu diskutieren wäre im Anschluss, was diese Ergebnisse für die Rekrutierung von Gymnasiasten und Gymnasiastinnen in Zeiten des erhöhten Lehrkräftebedarfs für die Professionalisierung PH-Studierender mit unterschiedlicher Vorbildung und für die Ausbildung von Lehrpersonen der Sekundarstufe I (Fachbereich «Berufliche Orientierung» im neuen Deutschschweizer Lehrplan 21) und der Sekundarstufe II (Unterricht an [Fach-]Maturitätsschulen) bedeuten.
Literatur
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