Die Wunder der weiblichen Sexualität. Maitreyi Piontek
Menschen sind sexuell sehr bescheiden und geben sich mit solch kleinen Wundern zufrieden.
Die kleinen Wunder sind allen Menschen zugänglich, die großen Wunder zu erfahren, erfordert persönlichen Einsatz. Erst müssen im Inneren die Voraussetzungen geschaffen werden, damit etwas Größeres geschehen kann. Das erfordert den Mut, die persönlichen Unsicherheiten, Schwächen und Begrenzungen zu erkennen und sich weiterzuentwickeln. Solange unsere Sexualität von unbewussten Anteilen gesteuert und Sex lediglich unbewusst eingesetzt wird, um kleine Wunder zu erleben, können die großen Wunder nicht geschehen.
Was ist normal?
Im Zusammenhang mit sexueller Erfüllung taucht immer wieder die Frage auf, was eigentlich normal sei. Erstaunlich viele Menschen – Frauen wie Männer – kommen zu mir in die Sexualberatung, weil sie sich darüber informieren möchten, ob ihre Sexualität beziehungsweise ihre Gefühle und Neigungen der Norm entsprechen.
Ja, normal ist, was der Norm entspricht – und das ist nicht unbedingt erstrebenswert. Die Sexualität der meisten Menschen ist unbewusst und fremdbestimmt. Das entspricht der Norm. Die Norm ist die sicherste Liebestöterin überhaupt, sie killt Lebendigkeit, Individualität und Kreativität. Diese aber verleihen der Sexualität gerade ihre Würze. Was allgemein als normal betrachtet wird, können du oder ich durchaus als gestört empfinden.
Die sexuelle Norm wird vom kollektiven Bewusstsein geprägt, und dieses ist von den moralischen Grundsätzen der Religion sowie der Überbetonung des männlichen Prinzips beeinflusst. Heute wird die Norm zudem stark von den Medien und der Werbung manipuliert. Es ist unsere Aufgabe, die Sexualität aus den Klauen des Kollektivs und der sogenannten Normen zu befreien.
Die Erfüllung
Doch bleiben wir noch etwas bei der Norm. Ihr zufolge gilt der Orgasmus, am besten noch der von beiden Partnern gemeinsam erlebte, als die sexuelle Erfüllung – ebenso wie der Samenerguss als Höhepunkt des männlichen Orgasmus gilt. Und irgendwie stimmt das ja auch. Der eigentliche Sinn und Zweck der Sexualität ist die Fortpflanzung, und mit dem Samenerguss ist die Mission der Arterhaltung für eine bestimmte Zeit erfüllt. Wie aber kann eine Sexualität, die entleert, erfüllend sein? Ein Zustand der Erfüllung ist gekennzeichnet durch innere Fülle und Wohlgefühl: Wie aber kann man einen erfüllten Zustand erreichen, der durch Stimulation eingeleitet wird und in einer Entleerung von Lebenssäften gipfelt? Absichtlich spreche ich hier nicht von sexueller Befriedigung, sondern von sexueller Erfüllung. Befriedigung und Erfüllung haben unterschiedliche Qualitäten. Sexuelle Erfüllung wird durch weibliche Qualitäten geprägt und wirkt nachhaltig nährend und heilend. Unter Befriedigung versteht man eher eine lustvolle und kurzfristige Spannungsentladung. Der sexuelle Hunger wird gestillt. Die interessante Frage lautet nun, ob es tatsächlich eine sexuelle Erfüllung gibt? Und wenn ja, wie ist sie? Beginnen wir mit den eigenen Empfindungen und Vorstellungen. Nimm dein Tagebuch und setz dich mit folgenden Fragen auseinander:
TAGEBUCH
Sexuelle Erfüllung
Ich möchte dich bitten, diese Fragen auf dich wirken zu lassen und in Ruhe zu beantworten. Nur so kannst du dir eine eigene Meinung zu diesem Thema bilden.
♥Was bedeutet für dich sexuelle Erfüllung?
♥Wie erfüllend ist deine Sexualität? (Nimm dir für die Auseinandersetzung mit dieser Frage genug Zeit.)
♥Erinnere dich an eine Situation, in der du Erfüllung erfahren hast. Der Moment kann etwas mit Sexualität zu tun haben, muss aber nicht.
Erfüllung einladen
Sexuelle Erfüllung wird nicht allein durch die Gunst der kleinen Liebeskerlchen Amor und Eros verursacht. Wir selbst können viel dazu beitragen, unsere Chancen auf ein Erfüllungserlebnis zu erhöhen, indem wir ein einladendes Klima schaffen. In die Sexualberatung kommen häufig beruflich erfolgreiche Menschen, die ihre Sexualität »verbessern« wollen. Viele dieser Menschen haben gemein, dass sie sehr viel ihrer Energie und Zeit in die Karriere gesteckt haben, weshalb sie in ihrem Beruf auch erfolgreich sind. Ihre Sexualität hingegen erleben sie als unbefriedigend. Wie könnte das auch anders sein, sie wurde weder gefördert noch entwickelt. In der Sexualität gilt wie auch auf anderen Gebieten: Von nichts kommt nichts. Je mehr Zeit und Energie wir in die Entwicklung der Sexualität investieren, desto mehr wird möglich. Die weibliche Sexualität steht und fällt mit den weiblichen Qualitäten einer Frau. Engagierte extrovertierte Frauen müssen lernen, ihre weiblichen Anteile zu nähren und zu stärken, um gute Voraussetzungen für eine nährend erfüllende Sexualität zu schaffen.
Wären Menschen bereit, so viel in ihre Sexualität zu investieren wie in ihren Beruf, hätte ihr Sexualleben eine völlig andere Qualität. Die vorherrschende Erwartung an einen sexuellen Höhepunkt lässt sich mit einem Fußballtor vergleichen. Um eines zu schießen, reicht das Interesse an Fußball allein nicht aus. Der Fußballer braucht Talent, ein ausgeprägtes Ballgefühl, einen gesunden Körper, intensives Training und ein gutes Zusammenspiel mit anderen. In der Sexualität möchte man Höhepunkte erreichen, allerdings ohne jegliche Vorbereitung. Quasi aus dem Nichts heraus will man mal schnell am Feierabend zwischen Tagesschau und Krimi den orgastischen Höhenflug erleben.
Die Unterdrückte Macht
Dass es durch bewussten Umgang mit der Sexualität möglich werden kann, Unabhängigkeit, Intelligenz und Kraft zu entwickeln, blieb den verschiedenen Kulturen und Religionen nicht verborgen. Speziell Frauen wurde und wird der natürliche Zugang zu ihrer Kraft versperrt, da man sie so besser unter Kontrolle halten kann. Die Unterdrückung der Sexualkraft mit allen Mitteln – Gesetzen, Moral und Religion – erhält die Machtstrukturen. Nicht zuletzt geraten Frauen durch ihre Mutterrolle in finanzielle und emotionale Abhängigkeiten. So wird ihnen der Ausbruch aus der bestehenden Norm und die Entwicklung neuer Werte noch zusätzlich erschwert.
Durch Gebote und Gesetze wurde die Sexualität im Laufe der Jahrhunderte zu einer Tabuzone, sodass sie in Heimlichkeit und Dunkelheit gedrängt wurde. Die vom gesellschaftlichen Leben abgespaltene Stellung der Sexualität ist weltweit im Kollektiv verankert. So erklärt sich, dass es vielen Menschen peinlich ist, über ihre Sexualität zu sprechen. In keinem Bereich wird so viel gemogelt und gelogen. Und den Menschen, die das tun, fällt es häufig gar nicht auf, weil es sich im Unbewussten abspielt. Das Kollektiv sollte daher dringend mit neuen Informationen gespeist werden. Wir brauchen mehr Klarheit und Transparenz in der Sexualität, und dafür bedarf es der unermüdlichen Bemühung jedes Einzelnen.
Abgespalten und unerfüllt
Obwohl wir in einer Zeit der Sexualisierung leben, wird Sex aus dem Alltag verdrängt. Man hört selten, wie Nachbarn Liebe machen. Man sieht sie nie dabei, und man spricht auch kaum über die eigene Sexualität, nicht einmal mit dem Menschen, mit dem man eine intime Liebesbeziehung pflegt. Frau Meier beschwert sich bei der Nachbarin über das schlechte Wetter, nicht aber über den schlechten Sex mit ihrem Mann.
Die Abspaltung der Sexualität von den anderen Ebenen ist eine der Hauptursachen dafür, dass Sex als unerfüllt empfunden wird. Schon als Kinder haben wir gelernt, bestimmte Bereiche aus dem bewussten Erleben in den Bereich des Unbewussten zu verdrängen. Schon da fielen wir aus der Ganzheit in einen Zustand der inneren Zerrissenheit. Große Bereiche unserer Persönlichkeit unterstehen deshalb nicht unserem bewussten Erleben und Wirken. Diese von uns nicht bewusst besetzten Teile unserer Persönlichkeit werden fremdbestimmt und machen uns manipulierbar. Über diese Teile werden wir wie Marionetten gelenkt und gelebt. Sich auf allen Ebenen bewusst in die Gegenwart einzubringen, ist ein wichtiges Ziel der ganzheitlichen sexuellen Heilung. Eine gute Integrationsübung ist die auf Seite 67 beschriebene Zentrierung. Sie hilft dir, Sexualität als ganzer Mensch und auf allen Ebenen gleichzeitig zu erleben.
Sexualität vernetzen
Um die Sexualität in ihrer Ganzheit und Fülle zu erleben, ist es notwendig, die einzelnen Ebenen und Körper, mit denen jeder Mensch ausgestattet ist, zunächst zu entwickeln und dann bewusst miteinander zu verbinden. Jede einzelne Ebene ist wie ein Baustein. Die verschiedenen Bauklötze ergeben zusammen ein solides Fundament, auf dem du deine Erfahrungen