Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe). Marcel Felder
THEATERPÄDAGOGIK ALS KONZENTRISCHE FELDER THEATERSPIELEN UND THEATERSCHAUEN
Ein zweiter Ansatz zur Eingrenzung und damit zur Definition theaterpädagogischer Arbeit beschreibt zwei konzentrische Felder im eben dargestellten Schnittbereich der drei Felder Theater, Pädagogik und Therapie des ersten Ansatzes.
–Einerseits lässt sich ein zentrales theaterpädagogisches Feld der Produktion von Theater eingrenzen, das sich mit dem Initiieren und Begleiten von theatralen Spielprozessen befasst.
–Andrerseits – und dem eigentlichen Wortsinn folgend – kann Theaterpädagogik verstanden werden als pädagogische Richtung, die sich mit Bildungs-, Erziehungs- und Vermittlungsprozessen im Zusammenhang mit der Rezeption von Theater befasst.
Das zweitgenannte, weite Feld der Rezeption sowie vielfältiger und vielgestaltiger Vermittlungs- und Erziehungsprozesse im Zusammenhang mit Theater – häufig im Kontext von Inszenierungen und Theaterbesuchen im professionellen Theater – umfasst das erstgenannte, zentrale der Produktion, bei dem das ‹Selber-Spielen› im Fokus liegt. Diese beiden Felder wurden im ersten Kapitel schon erwähnt.
Abb. 4: Produktion (Theaterspielen) und Rezeption (‹Theaterschauen›) als konzentrische Felder
Theaterpädagogik als Initiieren und Begleiten von Spielprozessen
Das innere der beiden konzentrischen Felder umfasst alle theaterpädagogischen Prozesse, bei denen Menschen zum Theaterspielen angeleitet werden. Unabhängig von Rahmenbedingungen wie Alter, Gender, Vorkenntnissen der Spielenden, unabhängig von institutioneller Einbettung oder beabsichtigter Wirkung, unabhängig von Techniken und Methoden geht es bei der theaterpädagogischen Arbeit in diesem Feld immer um die konkrete Produktion von Theater. Dies beginnt beim kurzen szenischen Versuch im Sinne von Rollenspiel, geht über Improvisationsspiele bis hin zum Theaterprojekt mit Abschlussaufführung.
In diesem Feld der Theaterpädagogik geht es also darum, dass Menschen Theater produzieren, dass sie Theater spielen. Oder anders: die Erziehungs- und Bildungsprozesse hängen im Kern von den Spielerfahrungen der Lernenden und darüber hinaus von ihrer Reflexion derselben ab und stehen in engem Zusammenhang mit diesen. Im Zentrum von Theaterpädagogik steht hier die eigene Spielerfahrung, das ‹Selber-Spielen›, der spielende Mensch, der ‹Homo ludens› (Huizinga (2011)).
Aus Sicht der Leitenden wird Theaterpädagogik in diesem Feld verstanden als Initiieren und Begleiten von theatralen Spielprozessen. Als Forderung an die Ausbildung von Theaterpädagoginnen und -pädagogen, die in diesem Feld arbeiten, wird denn auch einerseits eine fundierte eigene Schauspielausbildung gesehen, in der sie sich als Spielende, als ‹Homines ludentes› erfahren. Andrerseits wird über die theoriegestützte Reflexion dieser Spielerfahrungen ein spielorientiertes Leitungsverständnis entwickelt.
Theaterpädagogik als theatraler Bildungsprozess ohne eigene Spielerfahrung
Im äusseren der beiden konzentrischen Felder geht es nicht ums ‹Selber-Spielen› sondern um die vielfältige Beschäftigung und Auseinandersetzung mit theatralen Prozessen. Vermittlungs-, Erziehungs- oder Bildungsprozesse zielen hier darauf ab, Menschen mit Theater in Beziehung zu bringen, ohne dass sie selber spielerisch aktiv werden, ohne dass sie selbst Theater ‹produzieren›. An die Stelle der Produktion wird in diesem Feld in aller Regel die Rezeption von Theater gestellt, die – in der Reflexion durchaus auch aktive – Beschäftigung mit theatralen Produkten, an denen man als Zuschauerin oder Zuschauer, nicht aber als Spielerin oder Spieler direkt beteiligt ist. Die Rede ist hier beispielsweise vom Besuch einer Theatervorstellung mit vor- und nachbereitenden Probenbesuchen, Gesprächen mit Schauspielerinnen und Schauspielern und anderem mehr – ohne dass eigentliche Spielprozesse initiiert oder szenische Versuche unternommen würden. Die Vermittlungs-, Erziehungs- und Bildungprozesse in diesem Feld hängen also nicht von der eigenen Spielerfahrung der Lernenden ab, sondern von der vielfältigen weiteren Beschäftigung mit Theater.
Dass die Grenze zwischen den beiden konzentrischen Feldern – dem zentralen des ‹Selber-Spielens› und dem umfassenden des ‹Theaterschauens› – durchlässig ist, liegt im Wesen von Theater: Theatrale Kommunikation entsteht erst in der wechselseitigen Ergänzung von Produktion und Rezeption, im Zusammenwirken von Bühne und Zuschauerraum. Und genauso wie erst das zuschauende Publikum das Geschehen auf der Bühne zu Theater macht, wird das Publikum erst dadurch zum Publikum, dass ihm auf der Bühne etwas vorgespielt wird. Oder, wie Peter Brook in seinem fürs Theater zentralen Buch «Der leere Raum» schreibt: «Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist». (Brook (2004), S. 9)
In diesem Sinn kann auch das Konzept der beiden konzentrischen Felder verstanden werden: Zu einer umfassenden Theater-Bildung im Sinne einer Erziehung von Menschen zur aktiven Teilhabe an Theater gehören das ‹Selber-Spielen› genauso wie das Zuschauen. Beide Bereiche ergänzen einander und helfen sich gegenseitig. «Wer spielt, schaut anders Theater. Wer Theater schaut, spielt anders.» (Lille (2009), S. 14)
2.4 FELDERDEFINITION ÜBER ZIELE DER THEATERPÄDAGOGIK
Eine dritte Möglichkeit zur definierenden Eingrenzung von Feldern der Theaterpädagogik geht von der – in der Pädagogik ebenso umstrittenen wie allgegenwärtigen – Frage nach der Intention aus: Woraufhin zielt die Beschäftigung mit Theater, was soll erreicht werden mit Theaterpädagogik? Die Beantwortung der Zielfrage öffnet zunächst zwei neue Felder:
–Ein erstes ist jenes, in dem als Ziel der Beschäftigung mit Theater die Erweiterung von künstlerischen Kompetenzen8 steht, die in kunstpädagogischer Absicht konkret mit Theater zu tun haben. Dies kann die eigene Spielkompetenz in all ihren Facetten sein oder das Verständnis von theatralen Prozessen und Produkten.
–Ein zweites Feld, das sich im Zusammenhang mit der Frage öffnet, was mit der theaterpädagogischen Arbeit intendiert sei, umfasst eine Vielfalt von Kompetenzen, die inhaltlich nicht mit Theater in Zusammenhang stehen, an denen aber mit theatralen Mitteln gearbeitet werden kann. Hier ist die Rede von der schon im ersten Kapitel erwähnten Vielfalt theaterpädagogischer Einsatzgebiete, begonnen bei Methoden aus dem (Fremd-)Sprachunterricht oder der Schulung personaler Kompetenzen (z. B. Auftrittskompetenz) mit Methoden aus der Schauspielausbildung, über die Erweiterung von sozialen Skills in Rollenspielen, bis hin zu den erwähnten therapeutischen Ansätzen.
Diese beiden Felder sind als klar voneinander abgegrenzte Bereiche zu sehen, deren Grenze nur wenig durchlässig ist.
Abb. 5: Abgrenzung von theaterpädagogischer Arbeit, mit dem Ziel, künstlerische Kompetenzen zu erweitern und theaterpädagogischer Arbeit mit dem Ziel, fachliche, soziale oder personale Kompetenzen zu erweitern.
Theaterpädagogik mit dem Ziel, Wissen und Können über Theater aufzubauen
Im Feld der künstlerischen Kompetenzen wird das (Aus-)Bildungsziel verfolgt, Kompetenzen in der Kunstform Theater aufzubauen. Der im ersten Kapitel erwähnte, aus England stammende Begriff ‹drama education› beschreibt dieses Feld relativ präzise. In der Übersetzung heisst er etwa ‹Theater-Vermittlung› oder ‹Theater-Erziehung›. Ebenfalls hilfreich ist der über das Theater hinausgreifende Begriff ‹learning in arts›,9 der übersetzt werden kann mit ‹Lernen in den Künsten›. Es geht also in didaktischem Sinn um Kunstvermittlung, d.h. darum, Kunst – in der Theaterpädagogik mithin Theater – zu lernen.
Dieses Ziel kann und soll gleichermassen über das ‹Selber-Spielen›, die