Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe). Marcel Felder
das Medium ‹Spiel› in den Kontext der umliegenden Fächer eingebunden werden sollte.
Immer wieder spielte Theater in den schulischen Alltag hinein, blieb aber letztlich doch Spezifikum, Sonderfall und Ausnahme: Theater für besondere Anlässe also, obwohl schon früh unbestritten war, dass gerade das theatrale Spiel zu den menschlichen Urbedürfnissen gehört und auch sein sozialer und kommunikativer Wert nie infrage gestellt wurde.
Dies änderte sich auch in den 1950er-Jahren nicht, als erneut Bestrebungen im Rahmen der musischen Erziehung aufkamen und ein Fach ‹Schulspiel› auch als Chance der ‹Gesittung› und Rückbesinnung zu den alten Grundwerten gefordert wurde. Diese weit gefasste Auslegung des Musischen schloss aus, dass Theater in der Schule bloss ein Fach sein konnte. Theater war Erziehungsprinzip. (Hesse (2008), S. 41)
Grundsätzlich drehte sich die Diskussion immer wieder um die Frage, ob Kunst und künstlerischer Ausdruck instrumentalisiert werden dürften, ob also Theater als Erziehungsmittel, zur Vermittlung von ‹Gesittung› und Werten benutzt (bzw. missbraucht) werden dürfe. Die Diskussion, ob Theaterpädagogik sozialen, pädagogischen und/oder ästhetischen Zielen dienen solle, ist auch heute noch nicht abgeschlossen.
Zur weiteren Vertiefung in das Thema der historischen Entwicklung des Schultheaters sei auf die – mehrheitlich auf Deutschland bezogene – Publikation ‹Zukunft Schultheater – Das Fach Theater in der Bildungsdebatte› (Jurke & Reiss (Hrsg.) (2008)) verwiesen.
Pädagogische Bedeutung
Aktives Theaterspielen hat aus fünf Gründen fundamentale pädagogische Bedeutung:
–Erstens eröffnet das Spiel mit den Fiktionen und den Möglichkeiten auf inszenatorischer, performativer und semiotischer Ebene höchst komplexe Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten, die nur im Theater und in keiner anderen Kunstform (und schon gar nicht in den Wissenschaften) gewonnen werden können.
–Zweitens eröffnet dieses Spiel auf einer Meta-Ebene Erfahrungen mit dem Bildungsprozess selbst, also die Erfahrung der Möglichkeit von Bildung als Bildung, und das heisst zugleich: der Möglichkeit der Gestaltung von Ich und Welt in ihrer gerade nicht kalkulierbaren, kontingenten und genau dadurch bildenden Wechselwirkung.
–Drittens integriert Theater als «unreine» Kunstform Sprache, Musik, bildende Kunst, Video, Medien, Sport, Tanz etc. Die damit verbundene inhaltliche und kulturelle Komplexität und genuine Interdisziplinarität bietet kein anderes Schulfach.
–Viertens erfordert die Kunstform Theater für ihr Gelingen eine strikte Aufgabenorientierung und damit eine Fülle unterschiedlichster Fähigkeiten und Fertigkeiten, die hier gleichsam nebenbei erworben werden und erworben werden müssen.
–Fünftens eröffnet die Kunstform Theater Erfahrungsmöglichkeiten mit dem Spiel als einer anthropologisch und kulturell fundamentalen Dimension menschlicher Existenz. Damit kommt ihm zentrale Bedeutung für die Bildung insgesamt zu.
(Liebau (2008), S. 22)
Parallel zur Entwicklung und Veränderung pädagogischer Ansätze veränderte sich auch das Schulspiel. Während es bis in die 1950er-Jahre meist ein Vorzeigetheater war, nicht selten auch verbunden mit erzieherischen Absichten hinsichtlich Teamgeist und Konzentration, Sprachfertigkeit und Körperkontrolle, bis hin zur Verbindung auch mit Wertevermittlung und gesellschaftlichen Vorstellungen, sprengten auch da die 68er-Jahre die allzu gestrengen Ansätze und Musterschul-Vorstellungen eines wohl etwas steif verstandenen Schul-Theaters, eines da und dort vorherrschenden Verständnisses als Schön-Sprech-Guckkasten-Bühne nach grossem Vorbild.
Theaterpädagogik hat also einerseits Wurzeln bei den grossen Lehrmeistern und Schauspieltheoretikern, zum andern ist die Entwicklung aber auch Spiegel der politischen Verhältnisse und der damit einhergehenden pädagogischen Ausrichtungen.
Nachdem sich die anfängliche Euphorie eines aufklärerisch-emanzipatorischen Theaters gelegt hatte und deutlich geworden war, dass weder ein fundamentaler Wandel noch ein neues Menschsein die Folge waren, richtete sich der Fokus der späten 1980erund der 1990er-Jahre mehr auf das Individuum. Das Kollektiv, die neue politische Generation, hatte sich nicht zu etablieren vermocht. Viele gutgemeinte Ideen und Antworten auf das Weltgeschehen schienen gescheitert, die Antworten waren zu einfach, zu eindimensional und vermochten die Probleme nicht zu lösen. Der Mensch schien weniger einheitlich, die Gesellschaft heterogener, das Handeln individueller und biografisch geprägter, als dass es sich so einfach formen und beeinflussen liesse.
Dies wurde denn auch mehr und mehr der Fokus von Theater: Biografisches, Anekdotisch-Eigenes wurde auf die Bühne gestellt, im Zentrum standen nunmehr das Individuum in der Gesellschaft, die Suche nach der Persönlichkeit, nach der Unverwechselbarkeit. Geschichten standen im Mittelpunkt, die individuelle Erzählung, das subjektive Erleben und Empfinden, das Glücklich-Werden oder das Scheitern an und in der Welt – kurz: die Unverwechselbarkeit des Individuums, das, was es auszeichnet als anders, als eigen, als Unikat.
Das Erzähl-Theater war en vogue, und es war das Schweizer Kinder- und Jugendtheater, das europaweit als beispielhaft galt: Subjektive, märchenhaft-versponnene Geschichten, verschrobene Figuren, Einzelkämpfer und Träumer, Wortlose oder skurril Verspielte bevölkerten die Bühnen; zentrale Themen waren die Hilflosigkeit des Einzelnen im Getriebe der Welt, das Individuum im Kampf ums Überleben, das Fehlerhafte, das Unperfekte als Attribut des Persönlichen.
Entsprechend der Entwicklung im Theater für junges Publikum waren auch die Arbeiten im Bereich Schultheater: Man machte sich auf die Suche nach der eigenen Geschichte, der eigenen Herkunft, folgte dem Pfad der Eigen- und Besonderheiten, die Erzählung rückte ins Zentrum, Rolle und Figur traten in den Hintergrund. Geschichten wurden überhöht und verdichtet, wurden abstrahiert und anekdotisch, reale Figuren und ihre Erlebnisse waren im Fokus. Theater wollte Geschichten erzählen von Menschen ‹wie du und ich›. Spielen wurde zur Chance zu wachsen, sich selber kennenzulernen, sich auszudrücken, seine Fantasie und Kreativität zu entdecken und zu entwickeln, den Mut zu finden vorne zu stehen, selbstsicher, seiner selbst gewiss, mit all seinen Schwächen und Verletzbarkeiten, mit all seinen Mängeln und Borniertheiten. Theater als Ort der individuellen Stärkung, als Ort des wachsenden Selbstvertrauens. Oder, wie Weintz es umschreibt: «Ablehnung (übertriebener) pädagogischer Instrumentalisierung des Theaters und (Wieder-) Entdeckung seiner ästhetischen Qualitäten.» (Weintz (2004), S. 284)
In diesem Prozess verloren die Stücke ihren Appell-Charakter, es war das reale Leben, das die Geschichten schrieb und scheitern war genauso möglich wie reüssieren. Der Glaube an die einfachen Lösungen war obsolet geworden, das Leben wurde als komplexer und letztlich verworrener erkannt. Offene Enden von Stücken regten an, die Geschichten selber weiter zu denken; der Verzicht auf Wertung sollte Chance zur eigenen Entscheidung sein.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wandte sich das erzählerische Spiel mit Geschichten und Figuren noch stärker der aktuellen Ästhetik des Theaters zu. Technische Medien wie der Einsatz von stimmlicher Verstärkung oder Verzerrung und Projektionen von Bildern und Videos erweiterten das Bühnengeschehen. Die neue Ästhetik beeinflusste die Disziplin: Die Auflösung der traditionellen Inszenierung, die Versuche postmoderner Dramatik, die szenischen Realisierungen der neuen Regie-Generation der ‹Stücke-Zertrümmerer›, das Aufkommen performativer Formen, der Einbezug des Publikums in die szenische Handlung, die Entdeckung neuer Spielstätten – unterwegs, mitten in der Öffentlichkeit, im Quartier, in einer Villa, einer leerstehenden Fabrik, auf einer Brücke –, das Sprengen der Konventionen und Seh- und Hörgewohnheiten, die Vermischung von Fiktion und Realität. All diese Experimente und die experimentelle Verspieltheit beeinflussten auch die Theaterpädagogik – und umgekehrt: Leute wie Marthaler oder Häusermann, die über die Arbeit in der freien Szene zu den grossen