Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe). Marcel Felder

Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe) - Marcel Felder


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‹Animateur›, was aber die Sache nur ungenau trifft und auch deutlich macht, dass die Berufsvorstellungen je nach kulturellem Hintergrund unterschiedlich sind (Streisand (2010), S. 5).

      Die eine Wurzel ist also eine relativ junge und hat ihren Ursprung im deutschsprachigen Raum. Als Folge der 1968er-Jahre, des damit verbundenen ‹Dursts› nach Freiheit und Unabhängigkeit und der Abkehr von allem Bürgerlich-Verknorztem verliessen etliche Schauspielerinnen und Schauspieler die damals verkrusteten und erstarrten Stadtund Staatstheater, schlossen sich in freien Gruppen zusammen oder gründeten die ersten professionellen Kinder- und Jugendtheatergruppen. Diesen ging es mit ihren Stücken für Kinder und Jugendliche in erster Linie um die Emanzipation der nachwachsenden Generation, um politische Bildung also. Es sollte aufgeklärt werden mit dem Ziel, sich von der Fuchtel der konservativen Obrigkeit zu befreien. Es ging um erzieherische Freiheit, um sexuelle Befreiung, um Absage an Kapitalismus und Biederkeit, es ging um die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Strukturen, und dieser ‹Kampf› konnte nicht früh genug beginnen. Der Versuch also, die Macht im Staate zu untergraben, das starre Gefüge zu unterhöhlen, Menschen – und auch Kinder – zu selbstständig denkenden und unabhängig handelnden Personen zu emanzipieren. Der Traum einer freien Gesellschaft: ‹Das hälste ja im Kopf nicht aus›, ‹Was heisst hier Liebe?›, ‹Mensch ich lieb dich doch›, ‹Darüber spricht man nicht›, ‹Stifte haben Köpfe› u. a. waren Klassiker dieses emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters. Da und dort kam es zu Tumulten und erbosten Elternreaktionen nach Schulaufführungen oder gar zu Aufführungsverboten an Schulen.

      Als Folge der 1968er-Jahre verliessen viele Schauspielerinnen und Schauspieler die etablierten Theater. Theater sollte gesellschaftlich und politisch relevanter sein, näher beim Volk. Mit diesem Anspruch wurden auch in der Schweiz die ersten Freien Gruppen gebildet, in den Dörfern und Kleinstädten wurden Keller geweisselt, Scheinwerfer montiert, es entstand ein Netz von Gastspielstätten und von Gruppen wie Claque! oder ‹Innerstadtbühne›. Auf dem Spielplan standen nebst Lehrstücken von Brecht zeitgenössische Autoren wie Kroetz, Handke, Strauss, Schneider, Mrozek u.v.a. Nicht mehr die grossen Helden waren Thema, vielmehr sollte die Situation des ‹Volkes›, der einfachen Leute, zur Sprache kommen. Das gesellschaftlich-soziale und das politische Umfeld standen im Fokus. Dabei wandelte sich auch die Sprache: Autoren schauten dem Volk auf Maul. Dialekte oder dialektal gefärbte Sprache hielt Einzug, die Sprachlosigkeit war Thema, das sprachliche Stolpern und Stottern, das Fluchen und Schweigen.

      Parallel dazu forderten die Theaterschaffenden nicht nur Nähe zum Volk (Kunst für alle), gefordert wurde auch Nähe zu Schule und Schülern.

      1973 fand so z. B. das 14. Aargauer Gespräch der Kultur-Stiftung Pro Argovia statt, «auf dem die grundlegend neue Bedeutung des Darstellenden Spiels an den Aargauer Schulen – aber nicht nur in diesem Kanton – mit Nachdruck ins Gespräch gebracht wurde. Der Präsident der Pro Argovia, Albert Hauser, formulierte damals die Aufgabe der Tagung so: «Der Imperativ dieser Tagung, das ist ein kategorischer Imperativ, der heisst, wann, wo, wie kann auch im Aargau Schultheater, gutes Schultheater, realisiert werden.» (Streisand u.a. (2007), S. 51 f.)

      Aus dieser Tagung resultierte die Gründung einer Schultheaterkommission und einer Beratungsstelle, die noch heute aktiv ist. Theaterleute wie Jean Grädel und Peter Schweiger waren in dieser eigentlichen Geburtsstunde dabei und massgeblich an der Ausgestaltung der ersten Grundkonzepte für eine Theaterpädagogik in der Schule mitverantwortlich (vgl. Streisand (2007), S. 53). Umgekehrt beeinflussten theaterpädagogische Arbeitsansätze auch die Stadttheater: Regisseure wie Marthaler oder Häusermann hatten vor ihren ‹Stadttheaterkarrieren› oft mit Laienspielern oder Laien-Profi-Gruppen gearbeitet und dort Improvisationstechniken und kollektive Stückentwicklungen erforscht und erprobt. Auch Gruppen wie ‹Rimini-Protokoll› entwickeln ihre Konzepte mit theaterpädagogischem Hintergrund bzw. machen theaterpädagogische Arbeitsformen zu ihrem eigentlichen Markenzeichen.

      Im Umfeld dieser Theaterarbeit wurde auch mit Jugendlichen und Kindern in Freizeitzentren und Quartieraktionen Theater erarbeitet und wurden Inszenierungen entwickelt, meist mit klar politisch-emanzipatorischer Absicht (Weintz (2008), S. 279 ff.). Es ging um neue, offenere Formen der Kommunikation, es ging um selbstgesteuertes Lernen, um Autonomie, um interaktives Geschehen, um Entwicklung im Kollektiv. «Neben der neuen freien Theaterszene, die sicherlich grossen Einfluss auf die Lust am Theater heute hat, ist aber das Bedürfnis von Pädagogen, Psychologen und andern in helfenden Berufen Tätigen nicht zu vergessen; ihr Ziel ist es, ganzheitliche Selbsterfahrung, kreative Gruppenarbeit und politische Bildung zu verknüpfen.» (Ehlert (1986), S. 11, vgl. auch Lenakakis (2004), S. 40 f. und Weintz (2008), S. 279)

      Offener bzw. theaternäher formulierte es Rellstab in seinem kurz vor seinem Tod noch in Bearbeitung stehenden Band über Theaterpädagogik:

      Ausrichtung

      Im Zentrum der Theaterpädagogik steht der einzelne Mensch – im Zusammenleben mit anderen. Dieser einzelne Mensch ist ein spielender Mensch. Die Theaterpädagogik erkennt alle Menschen als Spieler. Jede und jeder kann Theater spielen.

      Theaterspielende spielen mit sich – mit anderen – für andere. Diese dreifache Ausrichtung stellt der Theaterpädagogik eine dreifache Entwicklungsaufgabe:

      1.der individuellen Gaben und Lebensäusserungen,

      2.der Interaktion – des Zusammenspiels von Einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen – zwecks Integration ins gesellschaftliche Ganze und zur Erhöhung der sozialen Kompetenz,

      3.der Ausdruckskraft von Körper, Stimme und Sprache und des zielgerichteten Handelns aufgrund von fiktiven Annahmen zur ausdrucksstarken Darstellung vor anderen.

      Inhalte

      Theaterpädagogik ist betont inhaltlich – nicht formal oder formell – ausgerichtet. Sie beschäftigt sich mit existenziellen Themen der Spielerinnen und Spieler: Geburt und Werden, Liebe und Tod, Macht und Ohnmacht – wie das Theater. Sie greift aktuelle soziale Themen auf: Desintegration der Randständigen und der kulturell und sprachlich Fremden, Arbeitslosigkeit, Suchtverhalten, Sektenwesen, Verunsicherung durch Virtualität, Passivität, Orientierungsverlust und Resignation. Theaterpädagogik entwickelt das Wahrnehmen mit allen Sinnen – aber auch der ‹verborgenen› Sinne für Bewegung und für Gefühle. Sie macht Erinnerungen zugänglich und schafft Zugänge zum unbekannten Ich.

      Theaterpädagogik schafft vertraute Beziehung zu Menschen in der Nähe, zu einem Ort, zum Umfeld, zur eigenen Lage, schafft Verwurzelung und Übersicht.

      Rellstab (2000), S. 193 ff.

      Das Theaterspiel als Alternative zu Frontalunterricht und Einwegkommunikation schien jedenfalls zu funktionieren, Schüler und Schülerinnen sprachen auf das Medium genauso an wie Lehrpersonen. Es entwickelte sich ein Bedürfnis nach Aus- und Weiterbildung, Theater sollte in den Unterricht integriert werden. Spiel im Unterricht boomte, Interessierte schlossen sich zusammen, Pädagogen kämpften auf der bildungspolitischen Ebene für ein Fach ‹Darstellendes Spiel›. Nicht zufällig wurde der Begriff ‹Theater› eher ausgeklammert: Im Zentrum stand das Spiel an sich, der (soziale) Prozess.

      Der Theaterpädagoge, der Spielprozesse interaktiv begleitete, statt Inszenierungen gestreng zu leiten oder selbstherrlich Regie zu führen, war der eigentliche Grundgedanke und die Zielsetzung der damaligen Theaterpädagogik. Dabei gerieten die Aufführungen selbst mehr und mehr in den Hintergrund, das Produkt wurde zweitrangig, der Prozess der kollektiven Entwicklung und des Miteinanders war wichtiger. Darin spiegeln sich die gesellschaftlichen Grundhaltungen und der emanzipatorische Ansatz.

      Parallel zu den Veränderungen in pädagogischen Ansätzen, Ausrichtungen und Methoden entwickelte sich eine Spiel- und Theaterpädagogik, die Einzug in die Lehrerbildung und die Freizeitgestaltung hatte und in Deutschland schon bald auf Initiative und unter Leitung von Hans-Wolfgang Nickel zu einem Ausbildungszweig ‹Spiel-, Interaktions- und Theaterpädagogik› an der Hochschule der Künste in Berlin führte.

      In der Schweiz wurde zu Beginn der 70er-Jahre an der Schauspielakademie Zürich eine


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